: Der Zug bremst, aber er hält nicht
Im deutsch-französischen Grenzgebiet machen sich vier junge Aktivisten an die Arbeit. Ihr Ziel: den Zug aufhalten, und sei es nur für eine Viertelstunde
aus Karlsruhe STEFAN KUZMANY
Montagmorgen halb acht. Die Gruppe „Kuchen“ macht sich startklar. Sie hätte sich auch einen schlimmeren Namen ausdenken können – andere aus dem Camp der Castor-Gegner in Wörth bei Karlsruhe nennen sich heute „Fußpilz“. „Kuchen“, das sind Iris (22), BWL-Studentin in Gießen, Alex (22), „beschäftigt in der Solarindustrie“, sowie die Zwillinge Matthias und Rafael (21) aus Lörrach im Schwarzwald, Studenten der Rechtswissenschaften und der Politik. Die vier wollen die Grenze zum Elsass passieren, um den Castor schon auf französischem Boden zu bremsen. Bevor es losgehen kann, bittet Alex die anderen, ihre Mobiltelefone auszuschalten. Damit sie nicht angepeilt werden können. Und den Akku herauszunehmen. Man weiß ja nie.
Alex, lange schwarze Haare und dichter Vollbart, ist der heimliche Anführer von „Kuchen“. Heimlich deshalb, weil er seine Anweisungen basisdemokratisch kleidet: „Mein Vorschlag wäre . . .“, sagt Alex, und da selten Widerspruch aufkommt, wird seinen Vorschlägen gefolgt. Der Plan: „Kuchen“ will sich einen stillen Platz an den Gleisen suchen und dann, wenn der Castor-Zug anrollt, eine Sitzblockade auf den Schienen improvisieren. „Wenn wir vier Leute es schaffen, den Castor eine Viertelstunde lang aufzuhalten, dann wäre das eine riesige Motivation für die anderen.“
Am Tag vorher schon haben sie sich die Gegend angesehen, jetzt gilt es, unauffällig den roten Golf zu parken, unauffällig an die Gleise zu gelangen. Was heißt schon unauffällig. Vier junge Menschen, an ihren Treckingjacken, ihren bunten Schals schon aus der Ferne als Demonstranten zu erkennen, stapfen durch das noch verschlafene Örtchen Sessenheim. Verwunderte Blicke ernten sie von der alten Frau im Garten, und auch von den zwei Müttern, die ihre Kleinkinder zum Morgenspaziergang ausführen. Dennoch unbehelligt erreicht „Kuchen“ sein Einsatzgebiet: Die Bahnstrecke zwischen Sessenheim und Drusenheim. Alex’ Vorschlag wäre es jetzt, dass „Kuchen“ sich aufteilt: Zwei sollen sich streckaufwärts postieren, um den Lokführer mit einer Taschenlampe zu warnen, dass sich jemand auf den Gleisen befindet. Die beiden anderen sollen auf den Schienen vor dem Castor-Zug herlaufen, um ihn zum Stoppen bringen. Alex und Iris wollen warnen, die Zwillinge blockieren. Um besser in Kontakt bleiben zukönnen, schalten die vier ihre Handys wieder ein.
Noch eine Stunde bis zum voraussichtlichen Eintreffen des Castors. Matthias und Rafael liegen im Unterholz und erzählen von ihren Eltern, die früher auch demonstriert haben, die jedoch kaum begeistert wären, wenn sie wüssten, was ihre Zwillinge da heute vorhaben. Sie haben ein Transparent dabei, ein sehr kleines nur, „ein größeres war nicht aufzutreiben“, STOPP! ist darauf geschrieben. Alarm! Die Zwillinge springen auf und sprinten zu den Gleisen. Doch der vermeintliche Castor-Transport entpuppt sich als Güterzug. Er hat kaum abgebremst, als Iris und Alex, die einen Kilometer entfernt stehen, ihn angeleuchtet haben. Die Zwillinge kauern wieder. Alex meldet über Handy Polizisten, die den Bahndamm absuchen, angelockt durch die beiden Warner. Die Zwillinge verkriechen sich noch tiefer. Erlauschen sie verdächtige Geräusche, wispern sie nur noch, kriechen noch mehr ins deckende Laub nahe des Bahndamms. Es ist feucht und kalt. Alex meldet sich. Es hat keinen Sinn, dass er und Iris noch vorne bleiben: Die Polizei hat sie gesehen. Sie stoßen wieder zum „Kuchen“. Ein Hubschrauber sucht die Strecke ab. Der Castor kann nicht mehr weit sein. Angespanntes Warten. Alex hat einen Vorschlag. Man wird versuchen, den Castor jetzt eben ohne Vorwarnung zu stoppen. Alle vier auf den Gleisen. Iris präsentiert eine spezielle Wasserflasche, mit der man sich nach einem Tränengasangriff die Augen ausspülen kann.
Und dann ist der Castor da. Alle vier Teile des „Kuchen“ stürmen auf den Bahndamm. Matthias entfaltet das Minitransparent: STOPP! Alex telefoniert. Sie rufen, der Zug hupt, der Zug bremst, aber er stoppt nicht. Er kommt näher, er stoppt nicht, „Kuchen“ springt zur Seite, der Zug rollt vorbei, aus den Fenstern des angehängten Passagierwaggons hängen Polizisten. Der Zug ist weg. Sirenengeheul. Drei Polizisten mit einem Schäferhund nehmen die vier Teile des „Kuchen“ fest. Auf der Wache ist die Verwirrung groß. Castor-Gegner, dazu noch Deutsche, das hatte man hier noch nie. Niemand spricht deutsch. Die freundlichen Beamten bieten Bonbons an. „Kuchen“ singt: „Wir wollen keinen Atomstaat.“ Die Polizisten hören kurz zu und bitten um Ruhe. Alex ist zufrieden: „Wir konnten den genauen Standort des Zuges durchgeben.“ Nach zwei Stunden sind alle wieder frei. Gut für Alex und Iris: Sie wollen heute noch ins Wendland reisen, den Castor stoppen.
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