: Türspalt aufgestoßen
Das Theater an der Ruhr in Mülheim macht seit zwanzig Jahren mit Kunst Politik. Nach dem iranischen entdeckt man nun auch das irakische Theater
von DOROTHEA MARCUS
Dieses Theater hat auf mindestens zwei Probleme der Welt konstruktive Antworten gefunden: die deutsche Stadttheater-Strukturdebatte und die politische Weltlage. Und auch wenn das eine im Angesicht des anderen verblasst, hängt es doch eng zusammen: Ohne sein leichtfüßiges Strukturmodell hätte das Theater an der Ruhr seine Kooperation mit den Ländern, die jetzt zur diffusen Welt des „Feindes“ gehören, nicht etablieren können. Vor einem Monat fand in Mülheim das erste iranische Theaterfestival außerhalb des Irans statt, und soeben war dort das erste irakische Theatergastspiel in Europa zu sehen.
Während des Jugoslawienkrieges, 1991, nahm das Theater an der Ruhr (TAR) das Roma-Theater Pralipe aus Skopje bei sich auf, um das einzige europäische Theater für 12 Millionen Roma zu einer festen Institution zu machen. Und trotz mittlerweile großer Differenzen bleibt die Rettung des Pralipe einer der wichtigsten Erfolge, mit denen sich das Theater an der Ruhr schmücken kann, wenn es in diesem Monat auf seine zwanzigjährige Arbeit zurückblickt.
Ins Leben gerufen wurde das TAR 1981 vom renommierten Regisseur und langjährigen Kölner Schauspielchef Roberto Ciulli und seinem Dramaturgen Helmut Schäfer. Ausgerechnet Mülheim, eine triste Ruhrgebietsstadt mit 180.000 Einwohnern, war der Ort, an dem man einen Ausbruch aus den betonierten Stadttheaterstrukturen wagen wollte. Das TAR wurde als private GmbH gegründet. Mit seinem Etat von 6,3 Millionen Mark verfügt es über knapp 30 Prozent dessen, was ein deutsches Stadttheater durchschnittlich für die Sparte Schauspiel zur Verfügung hat – und erwirtschaftet 50 Prozent davon durch Gastspiele. Gegen seine Gründung wurde damals gehörig agitiert, denn man nahm Abschied von strikter Arbeitszeitregelung und Unkündbarkeit. „Gewerkschaften lassen Theater lieber kaputtgehen, als von Tarifverträgen abzuweichen“, ist Helmut Schäfer überzeugt. Im Ensemble, zu dem neben den fünfzehn Schauspielern jeder Techniker, Requisiteur und Beleuchter gerechnet wird, herrscht langjährige Kontinuität, und jeder fühlt sich irgendwo zwischen Familie und Wandertheater.
Als Anstalt für reine Literaturvermittlung verstand man sich hier nie. Dabei waren die verspielten, ironischen Inszenierungen von Ciulli in Mülheim gewöhnungsbedürftig: Während die Arbeiten mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden und das TAR 1988 sogar „Theater des Jahres“ war, liefen in Mülheim manchmal hunderte aufgebracht aus der Vorstellung – oder kamen gar nicht erst. Mit der Akzeptanz des Theaters in der Heimatstadt ist es auch heute nicht gut bestellt: 70 Prozent der Besucher sind von auswärts.
In den Achtzigerjahren war das TAR das erste Theater, das Gastspielreisen und Koproduktionen mit dem Türkischen Staatstheater machte. Kurz vor dem Fall der Sowjetunion begann die Kooperation mit den sowjetischen Teilrepubliken. Seit über zehn Jahren besteht reger Kontakt mit dem Iran, lange bevor es den liberalen Präsidenten Chatami gab. „Wir waren oft mit dem Kopf durch die Mauern, bevor sie fielen“, sagt Ciulli. Das TAR war 1999 das erste europäische Theater, das im Iran je auf Gastspielreise ging, und es hörte auch im November 2000 nicht damit auf, nachdem die iranischen Teilnehmer der Heinrich-Böll-Tagung nach der Rückkehr in ihre Heimat festgenommen wurden, der Bundeskanzler seinen Iranbesuch abgesagt hatte und der liberale iranische Kulturminister zurückgetreten war.
„Solange es liberale Kräfte gibt, die uns einladen, müssen wir es machen“, sagt Dramaturg Helmut Schäfer. Für ihn liegen die Grenzen der Kooperation dort, wo man von offizieller Regierungspolitik vereinnahmt werden könnte, um diktatorische Systeme zu stabilisieren. Eine Zusammenarbeit mit den Taliban wäre allein schon deshalb undenkbar, weil sie nur möglich ist, wo Offenheit für Kunst vorhanden ist. Im Iran fand in den letzten Jahren – auch wegen des internationalen Austauschs – ein ungeheurer Theaterboom statt. Die Subventionen haben sich verzehnfacht, und auf den iranischen Bühnen werden Themen wie Vergewaltigung, Krieg oder Unterdrückung angesprochen. Ob es mit dem Irak jemals so weit kommen wird, ist indes noch ungewiss: Noch hören sich die Reden der irakischen Gastspieldelegation in Mülheim wie einstudiert an. „Wir haben einen sehr kleinen Türspalt aufgestoßen“, sagt Ciulli diplomatisch.
Auf einer Podiumsdiskussion sprach er offen die Zensur an. Immerhin gaben die Gäste vom Nationaltheater Bagdad zu, dass bei ihnen „agitatorisches Theater“ gegen „Imperialismus“, hinter dem man unschwer den amerikanischen erkennen kann, gemacht werden soll. Ihre Inszenierung „Das Paradies öffnet seine Pforten zu spät“ behandelte den Konflikt einer fremdbestimmten Identität allerdings subtiler. Im abstrakten Bühnenbild aus Stangen erkennt eine Frau ihren Mann ausgerechnet deshalb nicht mehr, weil er sich kaum verändert hat. Als sie ihm doch glaubt, wird sie von seinen Doppelgängern umzingelt. Schwindel erregend orientierungslos in einem zerstörten Land.
„Wir vermuten, dass sich die Menschen im Irak genauso wie im Iran danach sehnen, aus der Isolation herauszukommen. Der Dialog ist eine Chance. Das Embargo stärkt nur Saddam Hussein, wie überhaupt die westliche Außenpolitik der letzten Jahre die diktatorischen Regime in den arabischen Ländern immens gestärkt hat“, sagt Schäfer. Was sein Theater versucht, hört sich gerade im Moment wie Utopie an: Wandel durch Annäherung als einzige Antwort auf Terror. „Wir handeln nach den Prinzipien der Aufklärung: durch Reisen die Ignoranz und die Isolation aufheben“, sagt Schäfer, und doch scheint jeder kleine gelungene Schritt im Moment durch die Auswirkungen des Krieges überholt. Im nächsten März fährt das TAR dann zum ersten Mal auf Gastspielreise nach Bagdad. Falls man dann noch hinkommt.
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