: Beratung ist kein Gnadenakt
■ Gegen die Tabuisierung von Tod und Krankheit: Beim „Notruftelefon“ der Bremer Arbeiterwohlfahrt bekommen Menschen, die Angehörige pflegen, schnell und unbürokratisch Hilfe
Was tun, wenn die sonst so starke Mutter plötzlich hilf- und sprachlos im Bett liegt? Wenn die Verzweiflung über den sterbenskranken Göttergatten einfach viel zu groß wird? Viele Angehörige Pflegebedürftiger zögern viel zu lange, bevor sie professionellen Rat suchen. Dabei gibt es seit Mai vergangenen Jahres das Bremer „Notruftelefon“ der Arbeiterwohlfahrt (AWO) – ein Projekt, das helfen kann.
Deshalb wurde das Bremer „Notruftelefon“ jetzt in Berlin als „besonders innovatives Freiwilligenprojekt“ ausgezeichnet. Familienministerin Christine Bergmann (SPD) und AWO-Bundesvorsitzender Manfred Ragati überreichten als Preis einen „Smart“.
Rund 80 Prozent der Bremer Pflegebedürftigen werden derzeit nicht in Heimen, sondern zu Hause umsorgt. 12.000 Menschen, hauptsächlich Frauen, pflegen in Bremen einen Angehörigen. Die meisten alleine – oft ohne medizinische oder pflegerische Vorkenntnisse. Beratung nehmen nur wenige von ihnen wahr. „Wir sind noch nicht bekannt genug in Bremen“, glaubt Annemone Gerharz vom AWO-Notruftelefon.
Und noch einen Grund vermuten die Profis: „Der Umgang mit Alter und Tod in unserer Gesellschaft ist immer noch ein Tabu. „ Edith Lindner, die Leiterin der Beratungsstelle, glaubt: „Viele Frauen nehmen die Hilfe nicht an, weil sie das nicht als ihr Recht ansehen“. Die Beratung sei aber kein Gnadenakt, sondern eine Dienstleistung, die jeder in Anspruch nehmen könne.
Manchmal sind es kleine, oft aber große Probleme, die pflegende Angehörige zum „Notruftelefon“ bringen. Die Krankheitsbilder bei alten Menschen verändern und verschlimmern sich ständig. Das überfordere die Angehörigen häufig, erkläret Gerharz: „Krankheit und geistiger Verfall sind schon schwer genug zu ertragen.“ Die ständige Veränderung der Lage, oft zum Bedrohlichen, erschwere alles zusätzlich.
„In der Pflege läuft zudem nicht immer alles fürsorglich ab“, sagt Edith Lindner. Damit verbunden seien auch Gefühle völliger Verzweiflung. Auch Gewalt sei ein Thema der AnruferInnen. Zwar käme es selten vor, dass jemand direkt sagt, er habe seine Mutter gerade im Bad eingesperrt, unterschwellig wären jedoch oft Aggressionen zu spüren.
„Gewalt ist für uns nicht nur Schlagen oder Treten“ betont Lindner. „Sie beginnt, wenn Pflegende das Essen nicht bringen oder Türen knallen.“ Manche seien auch überfürsorglich – und drückten so doch ihre Aggressionen aus. Aber nicht nur pflegende Angehörige fallen aus der Rolle. „Auch alte Menschen können oft böswillig ihre Familie tyrannisieren.“
Wer telefonisch Rat sucht, dem versprechen die Beraterinnen schnelle Hilfe – auch anonym. Sieben ehrenamtliche Frauen beraten mit der Unterstützung von Annemone Gerharz am Telefon. Das Wichtigste ist ihnen zunächst, dass AnruferInnen sich alles von der Seele reden dürfen. „Das nimmt oft schon eine Menge Druck“, betont Gerharz. Aber auch „wo Pflegende auf der Stelle aus der Situation raus müssen“, werde der Notruf aktiv. Kurzfristig könne ein ambulanter Pflegedienst Angehörige sofort entlasten.
Längerfristig gibt es andere Möglichkeiten. Beispielsweise eine Kur – mit oder ohne Pflegebedürftigen. Oder es kommt einmal im Jahr eine Kurzzeitpflege. Bis zu 2.800 Mark gibt es dafür. „Wir helfen auch, durch den Paragraphen-Wald zu finden und Widerspruch gegen Urteile des Medizinischen Dienstes einzulegen“, betont Lindner. „Oft werden gerade pflegende Ehefrauen bei den Instutionen abgebügelt.“
Die psychologische Beratung will „die Belastung von einer Schulter wegnehmen und Verantwortung auf den Rest der Familie abladen“. Auch negative Gefühle finden hier Platz. „Das ist wichtig, um Schuldgefühle abzubauen.“ Die ersten drei psychologischen Gespräche sind umsonst. Aber wer zahlen kann, muss doch mit 35 Mark pro Sitzung bei der Psychologin rechnen.
Melanie Haselhorst
Das Notruftelefon ist von Montag bis Freitag unter der Bremer Nummer 794 84 98 zu erreichen.
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