: Frontschweine des Banalen
Die DDR war eine Amtsstube: Mehr als fünfzehn Jahre nach ihrer Entstehung gelangen zwei Dokumentarfilme von Thomas Heise doch noch an die Öffentlichkeit – eine kleine Sensation
von CLAUS LÖSER
Die Dienst habende Angestellte der KWV (Kommunalen Wohnungsverwaltung) bäumt ihren von einem Blümchenkleid zusammengehaltenen, mindestens 200 Pfund schweren Leib abwehrend auf: Nein, keine Neuzugänge an Wohnraum, es sei nichts zu machen, gar nichts frei im nächsten Quartal. Und für nicht im Schichtbetrieb stehende Werktätige schon gar nicht! „Ihre Tochter ist nicht im Plan“, hält sie einer in Tränen ausbrechenden Mittfünfzigerin entgegen. Von der Tapete blickt grau in grau der Generalsekretär, eine antike Continental-Schreibmaschine und ein Stempelkarussell harren ihrer Benutzung. Sogar die Topfpflanzen lassen die Schultern hängen.
Die Szene spielt sich 1984 im Berolinahaus auf dem Alexanderplatz ab, Sitz des Bezirksamtes von Berlin-Mitte. Jeden Dienstag und Donnerstag dürfen Bürger ohne Termin vorstellig werden, um ihre Sorgen und Nöte zu artikulieren; im Wohnungsamt, bei der Sozialfürsorge oder der Jugendhilfe. In jeder der mit einem Paternoster verbundenen Etagen die gleiche Konstellation: plastische Schilderungen von Ausnahmesituationen hier, schulturzuckendes Verweisen auf eingeschränkte Kapazitäten da.
Hingegen begibt sich zur berühmt-berüchtigten „Abteilung Inneres“ niemand freiwillig. Hier sitzt eine soeben „zugeführte Bürgerin“, die eine gänzlich unverständliche Geschichte zum Besten gibt; irgendwie geht es um Passierscheinfragen und Arbeitsplatznachweise. Eintragungen in Karteikarten werden von der Protokollführerin vorgenommen, greifbare Konsequenzen scheinen sich für keine der beteiligten Parteien abzuzeichnen. An Samstagen werden im ebenfalls im Berolinahaus befindlichen Standesamt Hochzeiten vollzogen. Ein Paar sitzt im Festsaal, die Köpfe gesenkt, als würde ihm von der lispelnden, sächselnden Beamtin gerade das Todesurteil verlesen, scheue Blicke, kein Lächeln. Draußen im Flur warten bereits die nächsten Delinquenten.
Diese letzte Sequenz aus Thomas Heises Film „Das Haus/1984“ ist an Absurdität nicht mehr zu überbieten. Heute erscheint sie grotesk wie von Buñuel inszeniert. Und doch handelt es sich dabei um die ganz normale DDR-Wirklichkeit, wie sie bis zum Herbst 1989 jederzeit zu erleben war. Man braucht sich nur erinnern. Sich diesen Bildern heute auszusetzen bedeutet allerdings scharfen Tobak. Und stellt doch gleichzeitig einen ungeheuren Glücksfall dar. Allein die Tatsache ihrer Existenz grenzt an ein Wunder. Heise, ein Jahr zuvor ohne Abschluss von der Babelsberger Filmhochschule entlassen, geriet gemeinsam mit seinem Kameramann Peter Badel bei der Suche nach filmischer Betätigung an die „Staatliche Filmdokumentation“ – eine Institution, die mehr oder weniger strukturlos mit der Archivierung von Alltagsbildern beauftragt war.
Da es in der DDR für öffentliche Stellen undenkbar schien, dass irgendwer ohne Genehmigung mit einer Filmkamera durch die Gegend lief, gingen die Porträtierten ganz selbstverständlich von offiziell abgesicherten Dreharbeiten aus. Dabei handelte es sich um eine Fall von echter Piraterie, die nur in Ansätzen legitimiert war.
Als die Auftraggeber das Material sahen, ließen sie es denn auch stillschweigend in geduldigen Bunkern versenken. Wenigstens wurde es nicht vernichtet. Damit liegt nun ein wichtiges missing link ostdeutscher Kulturgeschichte vor. Ein dringend notwendiges Korrektiv zum Monopol der sonst ausschließlich dominierenden, parteipolitisch abgesicherten Aufnahmen aus Babelsberg und Adlershof. Inzwischen schwingen sich ja sämtliche Opportunisten des Dokfilmstudios zu medialen Widerstandskämpfern auf.
Der andere, nun endlich gehobene Schatz des Duos Heise/Badel heißt „Volkspolizei 1985“ und umreißt mit diesem Titel bereits Gegenstand, Verortung und Zeitpunkt: Das Revier 14 auf der Brunnenstraße, unmittelbar vor den Feiertagen des 1. und 8. Mai, liegt in Mitte, in direkter Nähe zum „antifaschistischen Schutzwall“. Auch deshalb haben die Beamten vorrangig auf auffällige Elemente zu achten, die gewollt oder unwillkürlich den Ablauf der Feiertage stören könnten. Und mit etwas Mühe werden sie auch fündig.
Ein mittelloser Melker aus dem Brandenburger Umland muss sich vor laufender Kamera ebenso rechtfertigen wie ein völlig harmlos wirkender Cure-Fan, dem von einem Obermeister bescheinigt wird, seine Kinder würden sich nachts vor ihm fürchten. Des Weiteren gibt es etwas Tohuwabohu in Treppenhäusern. Eine betrunkene Lesbe zum Beispiel, die den stocksteif verkrampften Vopos ihr Bekenntnis entgegenkräht: „Ick liebe die nämlich!“
In den Ereignispausen entblättern die im Revier wartenden Sicherheitskräfte ihre Biografien, versuchen sogar, die Metaphorik ihrer Spitznamen zu analysieren. Zwei ungefähr zwölfjährige Jungs tauchen auf, die brav ihre Motivationen aufsagen, warum auch sie ihr Leben der Volkspolizei widmen möchten. Alles so aufschlußreich wie banal. Und wiederum absurd.
Viel war nicht los im Osten. Aber das, was nicht los war, wurde um so ernster genommen. Thomas Heise belegt mit diesen glücklich geborgenen Arbeiten sein enormes filmdokumentarisches Talent. Es besteht darin, im Augenblick des Erlebens genau die kleinen Geschehnisse wahrzunehmen, die kaum sonst jemand als relevant einstufen würde. Die sich aber wenig später als überaus signifikant erweisen werden.
Die Premiere der beiden Filme findet heute Abend im Babylon am Rosa Luxemburg Platz in Anwesenheit der Regisseure statt, Rahmenprogramm mit der Bolschewistischen Kurkapelle.Ausstrahlungen auf B1: „Das Haus“, 21. 11., 22.40 Uhr, „Volkspolizei“, 28. 11., 22.40 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen