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Was kostet die Welt

Typisch amerikanisches und umwerfendes Vermächtnis für die Generation X: „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ von Dave Eggers

von GERRIT BARTELS

Dave Eggers kennt keine Regeln. Ein Buch ist für ihn erst einmal dazu da, von Anfang an voll geschrieben und genutzt zu werden: „Hiernach hat keiner gefragt“ steht auf der ersten Seite, die sonst Widmungen oder Zitaten vorbehalten ist; und die Seite, auf der üblicherweise der Originaltitel stehen und Informationen über Auflagenzahl, Satz, Druck etc. hat Eggers genutzt, um seinen Verlag als Global Player zu diskreditieren und zu betonen, dass „alle Personen, Geschehnisse und Dialoge real sind und keine Produkte der Fantasie des Autors“.

Dave Eggers steht auch nicht der Sinn danach, den Einstieg in sein Buch so leicht wie möglich zu machen. Er quält lieber mit „Richtlinien und Empfehlungen zur Steigerung des Lesevergnügens“, einem kryptischen Vorwort, mit „Worten der Anerkennung“ und dergleichen mehr, ganze 50 Seiten lang. Allerdings gesteht er ein, dass man dieses ganze bemüht postmoderne Zeugs auch nicht brauchte für seine Geschichte. Diese Empfehlung beherzigt, dankt Eggers es dann Seite für Seite mit einem tatsächlich schönen, traurigen und rasanten Buch, das einem auch seine vielgestaltige Persönlichkeit aufschlüsselt: Größenwahn und Zärtlichkeit, altkluge Nachdenklichkeit und Jugendlichkeit, Ironie und Ernsthaftigkeit. Und auch das lange, auf den ersten Blick überflüssige Vorspiel und der Angebertitel erscheinen in anderem Licht.

Eggers erzählt also in „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ die Geschichte seiner Familie in einem weißen Suburb von Chicago; vom Krebstod der Mutter und des Vaters; wie er und seine drei Geschwister versuchen, den Tod der Eltern zu verkraften und von Chicago nach San Francisco ziehen; und wie es ist, wenn man als Zwanzigjähriger plötzlich eine große Verantwortung aufgebürdet bekommt: Er selbst ist es hauptsächlich, der seinem 8-jährigen Bruder Christopher, genannt Toph, als Ersatzelter zur Seite steht.

Beeindruckend zu Beginn, wie Eggers das qualvolle Sterben der Mutter fast minutiös beschreibt; wie er mit seiner Schwester versucht, das Nasenbluten der Mutter zu stillen, wie sie auf dem Sofa vor sich hin dämmert, wie er sie in den Krankenwagen trägt: eine intensive Schilderung, die an die kranke Mutter und ihren Sohn aus Rick Moodys „Ein amerikanisches Wochenende“ erinnert. Anstatt wie Moody nun eine bedrückende Familien- und Kleinstadtgeschichte zu erzählen, pendelt Eggers fortan zwischen den Genres. Er entwirft einen Erziehungsroman, dessen Held alles Gute und Schlechte von Vorläufern wie Frédéric Moreau, Holden Caulfield und Eddie Vedder in sich vereint; und er arbeitet seine Geschichte immer wieder zu einem Road movie um in Form einer Achterbahnfahrt durch die Neunzigerjahre.

Die Generation, die Douglas Coupland mit seinem „Generation X“ skizzierte, die es immer gab, wenn sie gebraucht wurde, die aber gern auch als bloßes Konstrukt angesehen wurde: dieser verlorenen Generation schreibt Eggers geradezu ein Vermächtnis, dieser gut ausgebildeten, aber trotzdem verzweifelten Jugend der weißen Mittelschicht. Stellvertretend steht zum Beispiel einer wie der ständig suizidgefährdete John: „Er hat die absolute Freiheit, keine Eltern, keinen, für den er sorgen muss, er hat Geld und ist nicht unmittelbar durch Schmerz oder Katastrophen bedroht. Er ist ein Glückspilz, so wie ich auch, [. . .] und dennoch verschwendet er jedermanns Zeit mit so etwas.“

Leute wie John gehören zu dem großen Figurenpersonal, das sich um Dave und Toph schart; Leute, die mit Dave das Fanzine Might machen und beweisen wollen, dass in dieser Generation mehr steckt, „als fantasielose Analphabeten und flanelltragende Langeweiler“; die sich bei MTVs „Real World“ bewerben, die Wired lesen und Beastie Boys hören, Loser oder Yale-Absolventen.

So dürfte es sicher auch dieses typisch amerikanische Generationsding sein, you wouldn’t understand, das Eggers’ Buch im letzten Jahr zu dem literarischen Ereignis der USA gemacht hat; fast eine halbe Million Mal hat es sich verkauft, und Eggers’ Leben wurde bis in die letzte Muskelfaser durchleuchtet und seine Stationen von Might über die Netzzeitung „Salon“ bis zu Esquire ausreichend erörtert. Inzwischen betreibt er das vierteljährlich erscheinende Literaturmagazin McSweeneys, für das Autoren wie David Forster Wallace, Rick Moody oder Zazie Smith schreiben und das trotz großer Nachfrage weiterhin in Island gedruckt wird. Eggers ist ein Star, ein „Kultbuchautor“; ein Autor aber auch, der nicht einfach mal drauflos schrieb, sondern ziemlich genau wusste, was er tat. So hält er sich zwar an keine erzählerische Ökonomie: Er ist geschwätzig, schweift ab, schreibt Rezepte auf, Traumsequenzen und Seiten nur im Konjunktiv – wenn er sich ausmalt, was seinem kleinen Bruder alles zustoßen könnte, während er sich im Nachtleben rumtreibt.

Doch er führt auch das postmoderne Spielchen seines Intro oft und bewusst weiter, wenn er seine Freunde mit dem Erzähler in Streit treten lässt und diese ihm vorwerfen, von ihm nur für sein Buch missbraucht zu werden. Eggers weiß, wie man sich gegen zu viel Offenheit schützt, wie man Traumata auffängt, verarbeitet, umleitet: großsprecherisch, zynisch und mit dem festen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen; und dann holt er den Leser ab mit seinem jugendlichem Übermut, seiner Überzeugung, alles zu dürfen, denn: Was kostet die Welt, wenn man das durchgemacht hat, was einer wie er durchgemacht hat!?

Dave Eggers: „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“. Aus dem Amerikanischen von Leonie von Reppert-Bismarck und Thomas Rütten. Droemer Knaur München 2001, 477 Seiten, 44,79 DM

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