Der Esel fliegt – vorbei

Auf die Begegnung gegen Hellas haben alle gewartet: „So voll war’s hier nur einmal“, sagt ein Fan, „als der Papst im Stadion gepredigt hat“

aus Chievo MICHAEL BRAUN

Schon eine Stunde vor dem Anpfiff ist das Stadion proppevoll. „Chievo zum Arsch!“ Die Hellas-Verona-Hools bieten ihr obszönes Standardrepertoire – doch sie laufen direkt in die Abseitsfalle der Chievo-Fans. „E i mussi volerà“, intonieren die voller Heiterkeit. „Die Esel fliegen!“ Und sie schwenken die grauen Tierchen in Stoff, in Plüsch, in Pappe.

Die Esel: sie wurden im letzten Jahr zum heimlichen Wappentier des Vereins – als ironische Antwort auf die Hellas-Kurve. Die nämlich hatte jahrelang das herablassende Motto: „Quando i mussi volerà giochiamo il derby in Serie A“ – „erst wenn die Esel fliegen, werden wir das Erstliga-Derby kriegen“. Chievo in der Ersten Liga, Chievo als ernst zu nehmender Gegner der Stadtmannschaft Hellas Verona, die hier einfach nur „Verona“ heißt, das war unvorstellbar. Das kleine Dorf gegen die ehrwürdige Stadt, das popelige Team von Nobodys aus der Peripherie gegen die Mannschaft, die immerhin 1985 italienischer Meister geworden war: lächerlich.

An diesem Sonntag ist es so weit: Jetzt sind sie alle da, um dem Eselsflug Tribut zu zollen: die Bürgermeisterin samt allen anderen Würdenträgern der Stadt, Nationaltrainer Trappatoni und 41.000 Zuschauer im seit Wochen ausverkauften Bentegodi-Stadion. „So voll war’s hier nur einmal“, sagt ein Fan, „als der Papst im Stadion gepredigt hat.“ Die Stadtmeisterschaft interessiert über Verona hinaus und das liegt daran, dass Chievo seit dem Aufstieg in die erste Liga im Frühsommer nicht brav auf einem hinteren Tabellenplatz auf das Derby gewartet hat. Im Gegenteil: In neun Spieltagen nur einmal verloren, 20 Punkte, Tabellenführer vor Inter, Juventus und AS Rom. Und all das ohne einen einzigen Nationalspieler.

Trotz dieser Heldengeschichte verhalten sich die Fans an diesem Spieltag so, als ginge es um das Derby und vielleicht noch darum, einen Fairness-Pokal zu gewinnen. Keine Schmähchöre oder Beschimpfungen gegnerischer Spieler sind zu hören, stattdessen jedes Mal donnernder Applaus, wenn einer der schwarzen Spieler, Eriberto oder Christian Manfredini, Ballkontakt hat. „Anschließend wird gefeiert, egal ob wir gewinnen oder verlieren“, sagt ein Fan jenseits der 60, „ist ja nur ein Spiel, und Hauptsache, wir sehen schönen Fußball.“ So reden sie alle, selbst böse Worte über die Hellas-Hools lassen sie sich nur mit Mühe entlocken, obwohl diese ihrem Ruf für unflätige, aber auch rassistische Sprüche gerecht werden: Affengebrüll ertönt gegen die schwarzen Chievo-Stürmer und die Arme recken sie zum Duce-Gruß.

Zwei Welten, ein Match

Zwei Welten, ein Match – aber dennoch Fußball vom Feinsten. Strafraumszenen ohne Ende, Chievo 2:0 in Führung, dann die Aufholjagd Veronas, Elfmeter, ein Chievo-Eigentor, die Führung für Hellas in der 73. Minute – und Chievo greift verbissen weiter an. Doch es reicht nicht – am Ende geht Hellas mit 3:2 als Sieger vom Platz. Trotzdem ziehen die Chievo-Fans in die Bars und Kneipen, schließlich steht ihr Team immer noch an der Tabellenspitze.

Außerdem geht es gar nicht nur ums Gewinnen: Feiern, Freude, schöne Spiele – immer wieder fallen bei den Fans die gleichen Worte, ganz so, als habe die ganze Chievo-Kurve am kollektiven Schulungsprogramm „der nette Fan“ teilgenommen. Tagtäglich steigt diese Schulung: auf der Piazza und in den Bars von Chievo. Verona ist schon fast an den kleinen, mittlerweile eingemeindeten Ort herangewuchert, und doch ist Chievo ein Dorf geblieben. Der schlanke Kirchturm markiert das Zentrum, drumherum gruppieren sich im Dreieck die zweistöckigen Häuschen, drei Bars sind das ganze Freizeitprogramm. Kaum ein Fenster, aus dem nicht die blau-gelbe Vereinsfahne hinge.

„Klar bin ich Chievo-Fan, sagt die kleine, pummelige, ältere Dame strahlend. Und „klar“ sind fast alle in der Bar für den Club, der für die Ehre des 2.500-Seelen-Dorfs spielt. Bei reichlich Bardolino oder Valpolicella – das Glas kostet hier eine Mark – erklären die gesetzten Herren, bloß die Jüngeren seien abtrünnig; „die sind mit den Hellas-Erfolgen in den Achtzigerjahren groß geworden, als Chievo noch in der Oberliga kickte“.

Einer, der sich nach dem vierten Gläschen als Exmasseur der Mannschaft outet, poltert auf die Frage nach dem Wunder des Aufstiegs los. „Wunder?! Von wegen! Wir alle haben Chievo groß gemacht, mit unserem Engagement.“ Dann zeigt er auf sein Gegenüber. Der Rentner jenseits der 70 war früher Kantinenkoch; in der Freizeit wusch und flickte er die Trikots, und noch heute macht er den Platzwart auf dem Trainingsfeld. „Seit 50 Jahren, und nie habe ich nur eine Lira eingesteckt.“ Sicher, heute ist Chievo eine Profimannschaft, „aber eigentlich funktioniert es noch genauso. Wo sonst finden Sie eine Profimannschaft, die mal eben komplett beim Fan auf eine Pizza vorbeischaut?“ Randale, Hooliganprobleme? „Wir sind fußballbegeistert, aber nicht fußballkrank. Auf dem Platz geht es um den Sieg – aber nur da. Die Fans der andren Mannschaft sind doch keine Feinde!“ Mit dieser gar nicht normalen Einstellung machen die Chievo-Tifosi in der Erstliga neue Erfahrungen. „Für uns waren Auswärtsspiele immer auch ein netter Ausflug, mit Stadtbesichtigung und Shopping vor dem Spiel. Als es in der Seria A das erste Mal nach Florenz ging, war von Shopping aber keine Rede. Die Polizeieskorte hat uns direkt zum Stadion gefahren, da standen wir dann wie im Käfig. Das ist doch pervers!“

Nur Junge und Kaputte

Aber mit ihrem bescheidenen Beispiel wollen die Chievo-Fans das ändern. Schließlich haben sie auf dem Platz schon gezeigt, dass Fußball auch anders geht. „Wir haben keinen einzigen berühmten Star im Team. Das sind entweder junge Spieler – oder Alteisen. Die übernehmen wir kaputt“, fachsimpelt der Masseur, „und dann richten wir sie wieder her. Unser Spielmacher Eugenio Corini zum Beispiel, 32 Jahre, drei Kreuzbandrisse, vier Monate Krankenhaus erst vor drei Jahren. Den haben wir praktisch geschenkt bekommen.“ Chievo sei eben einzigartig, „wie das Dorf von Asterix verteidigen wir unsere kleine Insel gegen den Milliarden-Fußball“.

Asterix wäre dann wohl Gigi Del Neri, Trainer des Teams. Im Mannschaftsquartier Veronello macht er sein Team fit. Wie bei den großen Erstligamannschaften geht es auch hier nicht zu: Keine Kontrolle an der Tür, keine hochwichtigen Pressekonferenzen, stattdessen Spieler, die mit jedem reden, und ein genauso auskunftsfreudiger Trainer. Gebetsmühlenhaft wiederholt er, Chievo sei trotz Spitzenplatz „eine Zweitligamannschaft“, die es in die Erstliga verschlagen habe. „Demut“ sei angesagt, einziges Ziel der Klassenerhalt. Demut, aber nicht Angst. „Wir haben keine tollen Techniker, und im Spiel eins gegen eins verlieren wir. Aber zehn gegen zehn können wir gewinnen.“ Also wird Fitness groß geschrieben, und Tradition: „Wir spielen nach vorn, wir haben die Flügelstürmer wieder aus der Mottenkiste geholt, wir machen kontinuierlich Druck.“ Mit dem Rezept lehrt Gigi Del Neris Team Mannschaften das Fürchten, deren Stars Millionengehälter wert sind. Der bestverdienende Chievo-Spieler kommt auf 500.000 Mark im Jahr. „Wir sind eben ein Team, das sich prima versteht, und bei dieser Mini-Fan-Gemeinde von vielleicht 4.000 Leuten spielen wir ohne psychischen Druck“, meint Christian Manfredini, schwarzer Star des Clubs. „Aber natürlich will jeder von uns auch berühmt werden und richtig Schotter verdienen.“ Ein erster Schritt ist getan: „In Verona erkennen sie mich jetzt auf der Straße.“ Sehr gut dagegen muss man hinschauen, um den Präsidenten des Vereins zu erkennen. Wie in Italien üblich, ist er millionenschwerer Unternehmer: Luca Campedelli, 32 Jahre alt, hat vor neun Jahren nach dem Tod des Vaters die Kuchen-Fabrik übernommen, in der die „Paluani“-Panettoni gebacken werden – und den Verein Chievo dazu. Schmal, schüchtern, unscheinbar, sagt er, die wichtigste Tugend des Präsidenten sei es, „dass ich mich aus den sportlichen Entscheidungen des Trainers raushalte“. Ansonsten ist er der Auffassung, dass Rassismus im Sport nun wirklich nichts zu suchen habe, und Politik auch nicht. „Ich will keine Fascho-Symbole im Stadion sehen, und auch keine Fahnen mit dem Che. Auf diesem Weg haben wir die Familien wieder ins Stadion gebracht.“

Politische Gutmenschen

Zumindest als Gegenentwurf zu Hellas mit seinen rechtsradikalen Rabauken auf den Rängen finden manche dieses politikferne Gutmenschentum eminent politisch. Der neu gegründete „Fanclub historisches Stadtzentrum“ tagt in der Osteria im Herzen Veronas, Trainer Gigi Del Neri und der Brasilianer Eriberto sind als Ehrengäste da. Sie müssen zwar zwischen Risotto und Pferdegulasch fleißig Schals signieren, aber die wohl 80 Leute im Saal wirken merkwürdig fußballfern. Der eine war seit 30 Jahren nicht im Stadion, der Nebenmann hat vor 15 Jahren sein letztes Spiel gesehen. Die Seele des Fanclubs ist Giorgio Bertani. Mit seinen langen rötlichen Haaren und dem wuchernden Vollbart sieht der 64-Jährige aus wie ein Altrocker. Anfang der 60er saß er mal im Knast, weil er den Mailänder Konsul Spaniens entführt hatte, um einen Franco-Häftling freizupressen. Dann gründete er einen linken Verlag – und jetzt den Fanclub. Aufgeregt springt er zwischen den Tischen hin und her und stimmt Chievo-Lieder an – aber keiner singt mit. Stattdessen doziert der Provinzvorsitzende von Rifondazione Comunista, der eigentlich am selben Abend beim Antikriegs-Koordinationsausschuss sein sollte, der Fan-Club sei „heute auch politische Aktivität“. „Damit halten wir gegen – gegen das Abdriften des Fußballs und der Stadt nach rechts. Ich geh jetzt wieder ins Stadion. Chievo ist eine neue Kultur von unten.“ Aber kaum hat er in der Tombola das Käppi in den Vereinsfarben gewonnen, ist er bei einem neuen „wir“ jenseits der Politik und ganz beim herkömmlichen Fußball. „Ah, wenn wir die Meisterschaft holen – das wäre einfach genial.“

Und dann ist da ja noch der 24. März: das Rückspiel gegen Hellas Verona.