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Russland, einmal kehr ich wieder . . .

Im KZ Sachsenhausen wurden vor 60 Jahren 13.000 Rotarmisten ermordet. Eine Ausstellung erinnert daran

Die Wangen hohl, der Bart vereist, das Gesicht voller Furchen. Gedemütigt, entkräftet, aber seltsam teilnahmslos fixieren die Augen den Betrachter des Fotos. Ein russischer Häftling des Konzentrationslagers Sachsenhausen im Angesicht des nahen Todes. Vermutlich wurde er kurz nach der Aufnahme von SS-Leuten erschossen – wie viele andere Kriegsgefangene, die im Herbst vor 60 Jahren in Sachsenhausen umkamen.

Das Plakat mit seinem Bild gehört zur Ausstellung „Sowjetische Kriegsgefangene im KZ Sachsenhausen 1941–1945“. Anlässlich des Jahrestages wurde sie am Sonntag in der Gedenkstätte eröffnet. Zahlreiche Bilder sowjetischer Lagerhäftlinge sind Teil der Schau. Alle ehemals Fotografien für eine Propagandaschau in Berlin, um gemäß der NS-Ideologie den „russischen Untermenschen“ zu zeigen. Für den heutigen Blick dokumentieren sie dennoch eindringlich die Qualen, denen die Internierten ausgesetzt waren. „Wir hoffen, dass die Ausstellung einen nicht geringen Beitrag gegen alle Tendenzen der Relativierung und Verharmlosung zu leisten vermag“, erklärte Günter Morsch, der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Die systematische Massentötung von russischen Kriegsgefangenen wurde in Deutschland lange Zeit mit Verweis auf die deutschen Kriegsgefangenen in der damaligen UdSSR relativiert. Von den über 5 Millionen gefangenen Rotarmisten wurden etwa 1,5 Millionen ins „Reichsgebiet“ gebracht. Mehr als 370.000 verloren hier ihr Leben.

Sachsenhausen spielte dabei eine besondere Rolle. Während der so genannten „Russen-Aktion“ im Herbst 1941 starben hier die weitaus meisten Kriegsgefangenen: 13.000 Rotarmisten wurden binnen drei Monaten erschossen – oder verhungerten. 1943 wurde in Sachsenhausen auch Stalins ältester Sohn Jakob von einem Wachmann getötet.

„Jeder Tag war ein schlimmer Tag, ob es November war oder Sommer“, sagt Mark Tilevitsch. Der ehemalige KZ-Häftling steht leicht gebückt, seine Bewegungen sind langsam. Tilevitsch ist 79 Jahre alt, er lächelt oft. Im September 1943 wurde der stellvertretende Leiter einer Batterie der Roten Armee nach Sachsenhausen deportiert. Dort schloss er sich einer Widerstandsgruppe von Häftlingen um den russischen General Aleksandr S. Sotow an. Trotz des Risikos überlebte er. „Ich habe einfach Glück gehabt“, meint er mit einem Schulterzucken. Seine Hand fährt über eine Ausstellungswand mit Fotos von stolz blickenden sowjetischen Soldaten. „An alle, die wir hier sehen, muss man sich erinnern“, sagt er mit Nachdruck. Viele von ihnen kannte er. Seine Hand hält inne am Bild von Josif J. Kozlovski: „Er war mein Freund, mit ihm saß ich in einer Zelle.“ Am 2. Februar 1945 wurde Kozlovski gemeinsam mit anderen russischen Offizieren von SS-Leuten zur berüchtigten „Station Z“ geführt: einem Ort der industriellen Menschenvernichtung mit „Genickschussanlage“, Gaskammer und angegliedertem Krematorium. Die Gefangenen leisteten erbitterten Widerstand. Sie wurden an Ort und Stelle erschossen.

Mark Tilevitsch ist trotz seines hohen Alters noch aktiv: Er hat die Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem russischen Kultusministerium entstand, angeregt und vorbereitet: „Auch die meisten Überlebenden der KZs leben mittlerweile nicht mehr, wer soll es machen, wenn nicht ich?“, fragt er und legt die Stirn in Falten.

Die wenigsten sowjetischen Häftlinge in Sachsenhausen sahen Russland jemals wieder. Dennoch gaben viele die Hoffnung nicht auf. 1958 fand ein Arbeiter in den Barracken einige vergilbte, dicht beschriebene Blätter. Ein unbekannter Häftling hatte auf ihnen Gedichte über das Leben im Lager und die Hoffnung auf Heimkehr niedergeschrieben: „Russland, einmal kehr ich wieder.“ Ein bekannter russischer Musiker vertonte die Verse. Das Lied erlangte in der Sowjetunion nationale Berühmtheit, erfolgreiche Kosmonauten wurden damit empfangen. Der Verfasser der Zeilen konnte jahrzehntelang nicht gefunden werden. Erst 1998 wurde der Name des Sachsenhausener Häftlings bekannt: Alexander Stoljanow.

Stoljanow sah die Heimat wieder. Doch wurde er nach überstandener KZ-Haft in der Sowjetunion wegen „Zusammenarbeit mit den Okkupanten“ angeklagt: Er starb in einem Lager des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. MICHAEL DRAEKE

Die Ausstellung im Neuen Museum der Gedenkstätte Sachsenhausen ist bis zum 2. Juni 2002 täglich außer montags von 8.30 bis 16.30 Uhr geöffnet

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