: Bronzetafeln im Muschelkalk
Die Martin-Luther-Kirche in Neukölln weiht am Sonntag ein „Erinnerungsfeld“ ein
Der Soldat Walter Bächtle, geboren am 15. Mai 1909 in Schwaben, fiel im Januar 1945 – irgendwo in einem Umkreis von 200 Kilometer um Berlin. Er wurde 36 Jahre alt. Wo Bächtle beerdigt wurde, ist unklar. Bis zum Tode seiner Frau wurde er offiziell als „vermisst“ geführt. Seine Tochter Gertrud Kauderer (64) erinnert sich daran, dass sie seinen Tod regelrecht verdrängt habe und sich erst relativ spät damit habe abfinden können, ihn nie wieder zu sehen. Sie kniet auf dem Boden der Martin-Luther-Kirche in Neukölln. Nicht zum Gebet. Gertrud Kauderer streicht Sand in die Fugen einer schlichten Bronzetafel mit ihres Vaters Namen. Zur Erinnerung an jemanden, für den es bis dahin keinen Ort der Trauer gab. Um „einen Abschluss“ zu finden, wie sie sagt.
Am kommenden Sonntag, dem so genannten „Ewigkeitssonntag“, soll in dem Neuköllner Gotteshaus ein bundesweit, vielleicht weltweit einmaliges „Erinnerungsfeld“ in einem Kirchenraum eingeweiht werden – Gertrud Kauderer gehört zu den ersten dreizehn, die diese Möglichkeit nutzen. Das „Erinnerungsfeld“ besteht aus 532 Bronzeplatten, die im Laufe von voraussichtlich zehn Jahren in den 370 Quadratmeter großen Muschelkalk-Fußboden des modernen Kirchenschiffes eingelassen werden sollen. Die 10,5 mal 10,5 Zentimeter großen Platten mit einem Gewicht von zwei Kilo sollen dem Gedenken an Verstorbene dienen. Verwandte, Angehörige oder Freunde können sie entweder mit einfachen Gravuren samt Namen, Geburts- und Todesdatum versehen – oder aufwändiger bearbeiten lassen.
Die Idee kam dem Initiator des Projektes, Ralf Nordhauß, bei Besuchen mittelalterlicher Kirchen: Nicht selten ließen sich Spender für diese Gotteshäuser im Kirchenschiff durch Epitaphien verewigen, also mit Grabmäler im Boden, die ihren Namen trugen. Da in der evangelischen Martin-Luther-Kirche eine altersschwache Dampfheizung durch eine moderne Fußbodenheizung ersetzt werden musste, dafür aber Geld fehlte, kam Nordhauß auf diese Tradition zurück: Die Spenden für das Erinnerungsfeld sollen das Geld für die Heizung reinbringen, die bisher nur mit einem Kredit finanziert wurde. Zugleich erhalten die Spender das Recht, eine Bronzetafel einzusetzen.
Mitglieder einer Kirche werden zu Spenden von 800 Euro (1.564,66 Mark) aufgefordert, Nichtmitglieder sollen 1.050 Euro (2.053,62 Mark) spenden, um das Recht auf eine Tafel zu bekommen. Gegen einen Aufpreis von bis zu 1.000 Mark könne man die Tafel auch künstlerisch gestalten lassen. Das Angebot des „Erinnerungsfeldes“ richtet sich zuerst an die rund 7.500 Gemeindemitglieder, aber auch an Interessenten aus ganz Berlin und Brandenburg. Pfarrer Dieter Spanknebel sagt, hier finde sich auch ein Platz der Trauer für Angehörige von Verstorbenen, die sich für eine anonyme Bestattung entschieden hatten. Zugleich soll ein „Gedächtnisbuch“ mit einem Foto und einem Text an die Toten erinnern.
Gertrud Kauderer erzählt, durch die Tafel habe sie wieder verstärkt Kontakt zu ihrer Schwester gewonnen, die mit ihr zusammen den Bronzeblock finanziert habe. Wenn die Tafel eingelassen werde, sagt Gertrud Kauderer, wisse sie, dass ihre Schwester an sie denke.
PHILIPP GESSLER
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