: Ein neuer Daseinszweck, ein neuer Einsatzraum
Was seit 1989 geschah: Vom Zusammenbruch der Sowjetunion zum Kosovo-Krieg und einem neuen globalen Selbstverständnis der Nato
BERLIN taz ■ Im April 1999 trafen sich Vertreter der Nato-Staaten in Washington, um dem Bündnis ein renoviertes Programm zu geben. Dieses neue strategische Konzept, Washingtoner Erklärung genannt, war eine Antwort auf die seit 1989 fundamental veränderte Weltlage: Die Nato, 1949 als antikommunistisches Bündnis gegründet, hatte mit der Sowjetunion auch ihren eigentlichen Daseinszweck verloren. In Washington versuchte man, in diplomatisch dehnbaren Formulierungen, die neue Rolle der Nato zu bestimmen: Das Bündnis wandelte sich von einem Verteidigungsbündnis, dessen Ziel und Zweck der Schutz der Mitgliedstaaten vor (militärischen) Angriffen war, zu einer Allianz, die sich das Recht einräumt „out of area“ einzugreifen. Der Begriff Sicherheit wurde weit über das, was im Washingtoner Gründungsvertrag von 1949 festgelegt worden war, hinaus geöffnet. Nicht nur Angriffe, auch „Terrorakte, Sabotage, organisiertes Verbrechen und die Unterbrechung lebenswichtiger Ressourcen und die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte“ sind seit dem April 1999 legitime Gründe für Eingriffe der Nato. Das neue Einsatzgebiet gab man wolkig mit dem „euroatlantischen Raum“ an, ohne dessen Grenzen auch nur anzudeuten. Im Klartext: Die neue Nato beansprucht das Recht, militärisch einzugreifen, falls Flüchlingsströme die Sicherheit von Nato-Staaten beeinträchtigen oder, noch brisanter, falls politisch inopportune Regime die Versorgung des Westens mit Öl in Frage stellen.
Das war in der Tat eine dramatische Neudefinition der Nato – zumindest wenn man sie an dem bisherigen Selbstverständnis des Bündnisses misst. Gemessen an der Praxis der Nato lag die Sache anders. Denn als in Washington jene Erklärung beraten wurde, bombardierten Nato-Flugzeuge schon seit Wochen Jugoslawien. Das neue Programm war gewissermaßen durch die Praxis, den Kosovokrieg, überholt worden, ja praktisch tat die Nato etwas, was nicht den (ziemlich interpretationsoffenenen) Buchstaben, aber doch dem Geist der Erklärung widersprach. Denn dort wurde festgelegt, dass alle Aktionen der Nato „Übereinstimmung mit den Prinzipien der UNO-Charta“ verlangen. Im Kosovo intervenierte die Nato ohne völkerrechtliche Grundlage: Es lag kein Beschluss des UN-Sicherheitsrates vor.
Die 1999 diskutierte Frage, ob der Kosovokrieg eine Art Notfall, also die Ausnahme, war oder ob er als Exempel künftiger Nato-Praxis gelten wird, ist noch immer offen. Allerdings gab es eine Reihe von praktischen Problemen bei den Nato-Alliierten: Die USA fanden es lästig, Militäroperationen mit knapp zwanzig Regierungen abstimmen zu müssen, die Europäer klagten, dass die USA fast sämtliche Ziele alleine festlegten. Auch dass französische Offiziere Nato-Geheimnisse an Belgrad verrieten und dass andererseits die USA die chinesische Botschaft bombardierten, verbesserte die Stimmung im Bündnis nicht gerade. Auch das ist ein Grund, warum die Nato in Afghanistan keine Rolle spielt. STEFAN REINECKE
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