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Eine griechische Tragödie

Träume und Realität liegen in der künftigen Olympiastadt Athen noch weit auseinander. Knapp 1.000 Tage vor der Eröffnungsfeier stagnieren die Vorbereitungen und die Zeit wird immer knapper

aus Athen MARC WIDMANN

In rund tausend Tagen wird das Stück rote Tartanbahn im Stadion von Athen ein historischer Ort sein. Dann kommt wieder der magische Moment, kurz vor dem olympischen 100-Meter-Finale, wenn die Sprinterkönige ein letztes Mal ihre muskelbepackten Beine schütteln, bevor sie sich niederkauern und auf den Knall warten, der sie los schickt auf die Jagd nach einer Goldmedaille oder dem Weltrekord – dem ewigen Ruhm, zumindest bis zur nächsten Dopingkontrolle.

Würde das 100-Meter-Finale allerdings heute schon stattfinden – die Sprinterkönige müssten erst einmal alte Kaugummis von ihrer Bahn kratzen. Die grauen Klumpen, die auf der Tartanbahn festgebacken sind, erzählen viel über den lieblosen Zustand, in dem sich Athens Sportanlagen drei Jahre vor den Olympischen Spielen befinden. Zwar berichten die Griechen stolz, dass bereits 75 Prozent aller benötigten Sportstätten gebaut sind, aber die meisten sehen so aus wie das Hauptprojekt Olympiastadion: Die Sitzschalen aus Plastik sind grau und vergilbt, der Rasen erinnert dank seiner Artenvielfalt mehr an eine Sommerwiese als an ein gepflegtes Grün, und der Sand in der Weitsprunggrube hat die trostlose Farbe von Zigarettenasche.

Athen steht vor der größten Herausforderung seiner neueren Geschichte. Die Sportstätten sind dabei nur ein Punkt auf einer langen Liste von Problemen, die dafür sorgen, dass misstrauische Inspektionsteams vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) in immer kürzeren Abständen, so auch in den vergangenen Tagen, vorbeischauen und emsig „gelbe Karten“ verteilen.

Makis Assimakopoulos stellt seine Stimme ein bisschen lauter, wenn man ihn darauf anspricht. Der General Manager sitzt in seinem Büro unweit des Olympiastadions, im modernen Gebäude des Organisationskomitees Athoc. „Mein ganzes Leben habe ich mich auf die Olympischen Spiele vorbereitet“, sagt der große Mann mit den schwarzen Haaren, der einst Schwimmer war, seinen Doktor in Sportmanagement an der amerikanischen Ohio State University machte und jetzt für die Organisation der Sportwettkämpfe verantwortlich ist. Wenn er spricht, ist seine Stimme so ernst wie seine Augen. „Ich bin sicher, dass wir einmalige Spiele veranstalten werden.“

Das IOC schlägt Alarm

Einmalige Spiele – das befürchtete das IOC auch, als es vor gut einem Jahr einen wilden Protestschrei losließ. Die Spiele 2004 drohten die chaotischsten aller Zeiten zu werden, denn die Griechen lagen in fast allen Zeitplänen weit zurück. Juan Antonio Samaranch persönlich stellte ein bis dahin einmaliges Ultimatum: Innerhalb von 100 Tagen sollte das Organisationskomitee ein vernünftiges Konzept für die Vorbereitung und Organisation der Spiele vorlegen, andernfalls drohte das IOC, „Maßnahmen zu ergreifen“. Viele verstanden dies als Warnung, Athen die Spiele im Notfall wieder zu entziehen.

Plötzlich brach Betriebsamkeit im Hauptquartier an der Kifissias Avenue aus. Ministerpräsident Kostas Simitis, dessen Regierung von Samaranch-Nachfolger Jacques Rogge ausdrücklich für die Misere verantwortlich gemacht wurde, sah den Ruf seines Landes gefährdet. Er feuerte die Verwaltungsbeamten an der Spitze des Organisationskomitees und holte Gianna Angelopoulos-Daskalaki zurück. Die resolute Frau eines Reedereibosses hatte als Chefin des Bewerbungskomitees schon 1997 mit entschiedenem Auftreten dafür gesorgt, dass Athen den Zuschlag für die Spiele bekam. Ihr bestes Argument war damals allerdings nicht das überragende Planungskonzept, sondern die Geschichte Athens. 1896 wurden hier die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit ausgetragen, und bei der Vergabe der Spiele 1996 war die Stadt übergangen worden. Das IOC beruhigte am 5. September 1997 also sein historisches Gewissen.

Manager Assimakopoulos registrierte eine neue Dynamik seit dem Führungswechsel, doch all die farbigen Pläne und langen Aufgabenlisten können nicht darüber hinweg täuschen, dass bereits mehr als die Hälfte der Vorbereitungszeit verstrichen ist – und dass bislang fast nichts Sichtbares geschah. Athen ist noch immer eine der hässlichsten Städte Europas. Die schmutzigen Fassaden seiner lieblosen Innenstadt sind leider noch vollständig erhalten. Zwar sind hier und da bereits die Gehwege aufgerissen – aber Bauarbeiter sieht man an diesen Orten nur selten. Alles, was von den Olympischen Spielen kündet, sind einige Souvenir-Läden, in denen man für 50 Mark ein T-Shirt mit dem offiziellen Logo, einem weißen Siegerkranz auf blauem Hintergrund, erstehen kann.

Bunte Pläne gegen Chaos

An einem der Hauptprobleme der Olympiastadt hat sich noch gar nichts geändert: In der Rush-Hour werden die Straßen noch immer von Fahrzeugen aller Art heimgesucht wie ein liegen gelassenes Honigbrot von einer Ameisenkolonie. Die Lösung für dieses Problem hängt an einem Clipboard neben dem Fenster im Büro von Makis Assimakopoulos. Stolz zeigt der Manager auf einen farbenfrohen Plan, der rundherum blau ist wie das Meer und auf dem Festland von bunten Linien durchkreuzt wird. „Ein neues Netz aus Autobahnen und Metrolinien“, erklärt Assimakopoulos. Der Plan sieht durchaus gelungen aus, ein Olympic Ring soll um das Stadtzentrum betoniert werden und mehrere Zuglinien sollen die Zuschauer zu einer Haltestelle 800 Meter vor dem Olympiastadion befördern. „Ein Teil der Straßen ist schon fertig“, sagt Assimakopoulos. Sein Finger fährt über die Landkarte. „Es ist sehr schön.“

Georg Weiner kennt die Pläne auch – und er bezweifelt, dass zu ihrer Umsetzung noch genügend Zeit bleibt. Weiner ist der Geschäftsführer der Stuttgarter Consulting-Firma Weidleplan, einer der angesehensten Firmen weltweit zur Planung von Sportanlagen und der dazugehörigen Infrastruktur; er ist auch einer der Hauptpartner des griechischen Organisationskomitees. Weiner kennt den Unterschied zwischen bunten Plänen und ihrer praktischen Umsetzung aus seiner täglichen Zusammenarbeit mit den Griechen. Und er sagt, dass sich noch viel verbessern muss. Viele Großprojekte haben sich in den Zahnrädern der griechischen Bürokratie verfangen, kleben irgendwo zwischen Organisationskomitee, Staatsregierung und Stadtverwaltung.

Die Planungsfehler blieben freilich auch der griechischen Bevölkerung nicht verborgen. Statt der anfänglichen Olympia-Euphorie herrscht mittlerweile Ernüchterung. Immer deutlicher erkennen die Einwohner, dass ihnen die Olympischen Spiele keinesfalls nur Ruhm und Ehre bescheren werden, sondern auch Verkehrsprobleme, zusätzliche Steuerausgaben und einen Touristenansturm, den die Stadt möglicherweise kaum verkraften kann. „Am Anfang waren wir sehr glücklich“, sagt beispielsweise der 21-jährige Athener Georgius Konstantinidis. „Mittlerweile glaube ich, es ist so wie immer. Die Politiker schaufeln sich das Geld in die eigene Tasche.“

Die einzigen, die sich mit uneingeschränkter Begeisterung auf das Jahr 2004 freuen, sind die griechischen Sportler. Zum Beispiel Dimitris Georgalis, der schon in Sydney beinahe ein Held geworden wäre. Der Rennfahrer steht im blau-weißen Nationaldress auf der Bahn des olympischen Radstadions, wo das Auswahlteam zwei Mal täglich trainiert. Georgalis hält seine beiden Handflächen etwa einen halben Meter auseinander. So viel hat ihm in Sydney gefehlt, ein Held zu werden. Einen halben Meter waren die einheimischen Australier damals schneller, beim Rennen um den dritten Platz, nach einem Kilometer Mannschaftsbahnfahren. „In drei Jahren wollen wir eine Medaille“, sagt Georgalis, zwar schmunzelt er dabei, aber er klingt doch entschieden. Während sich in seiner Sonnenbrille die blassen Sitzreihen des Velodoms spiegeln, erklärt er: „Wissen Sie, für einen Sportler ist es etwas Großes, bei Olympia dabei zu sein. Aber die Olympischen Spiele im eigenen Land sind das Allergrößte.“

Lebenszweck Olympia

Für Griechenland sind die Olympischen Spiele nicht einfach nur das größte Sportereignis der Welt. „Wir sind mit den Olympischen Spielen groß geworden“, sagt Makis Assimakopoulos, und nun fährt ein Lächeln auch in sein Gesicht, „ihre Geschichte stand in unseren Schulbüchern. Sie sind ein Teil unseres Lebens.“ Olympia, der Entstehungsort der Spiele, ist in Griechenland eine ähnliche Wallfahrtsstätte wie das Kolosseum in Rom oder die Freiheitsstatue in New York. Mangelhaft organisierte Olympische Spiele würden sich die Griechen nie verzeihen, denn sie bieten dem kleinen und nicht gerade reichen Land eine einmalige Möglichkeit, sich vor der ganzen Welt in ein festliches Kleid zu hüllen.

Die Tatsache, dass von diesem Kleid bislang nur die Schnittmuster zu sehen sind, beunruhigt vielleicht das IOC, doch die Mitglieder des Organisationskomitees geben sich überzeugt, die große Prüfung zu bestehen. „Es ist noch genug Zeit“, wird Kulturminister Evangelos Venizelos, der kürzlich als neuer starker Mann an die Seite von Frau Angelopoulos gestellt wurde, nicht müde zu verkünden. Den Kritkern im Lande wirft er vor, sie würden „Untergangsstimmung“ verbreiten.

Die Athener Olympia-Organisatoren gleichen Schneidern, die ihre Kleider gerne in letzter Minute zusammennähen, dabei aber immer auf der Suche nach etwas Besonderem sind. Etwas Besonderes, wie beispielsweise die Pläne des Architekten Santiago Calatrava. Der renommierte Spanier soll dem Olympiasportpark rund um das Stadion ein einheitliches Gesicht verleihen, die einzelnen Sportstätten mit einem Spiel aus Linien und Bögen verbinden. Der Sportpark soll ein Kunstwerk werden, und Besucher, denen im Stadion die Hitze zu Kopf steigt, sollen beim Wandeln durch Gänge aus Wasserfällen Erfrischung genießen können.

Im bunten Prospekt, der die Aufschrift „athletics“ trägt, sind diese Visionen schon sichtbar. „Bald“, sagt Manager Assimakopoulos, „werden sie auch im Olympiasportpark sichtbar sein.“ Als Baubeginn ist in den Zeitplänen Mai nächsten Jahres vorgesehen. Schön, dass „bald“ so ein dehnbarer Begriff ist.

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