Kein Beton und keine Power

Der FC St. Pauli ist nach der 1:2-Heimniederlage gegen den 1. FC Köln der schlechteste Tabellenletzte seit Einführung der Drei-Punkte-Regel und hofft auf tröstende Tore am Sonntag gegen den HSV

vom Millerntor OKE GÖTTLICH

Irgendwann zwischen der 25. und 35. Minute müssen die Schreckgespenster aus den angrenzenden Geisterbahnen ihr Unwesen am Millerntor getrieben haben. Sie suchten die St.-Pauli-Kicker heim, wie sie es mit vielen kleinen Kindern tun, deren entzückte Augen in den Geisterbahnen schnell zu ängstlich zuckenden Sehorganen werden. Holterdiepolter tickten die Abstiegsgeister den euphorisierten Überraschungsaufsteigern auf die Schultern und machten sie zu schreckhaften Bundesliga-Teenies. Zwei Minuten, zwei individuelle Fehler des Aufsteigers und zwei Tore reichten den seit sieben Spieltagen punktlosen Kölnern, um einen 2:1-Sieg am Millerntor zu landen und das Abstiegsgeheul der heimischen Medien zu dämpfen.

„Ich bin erleichtert“, atmete Kölns Trainer Ewald Lienen anschließend auf, wollte aber dennoch erst den Videotext befragen „ob tatsächlich drei Punkte mehr drauf sind“. Lienen war mit den neuen Manndeckern Marc Zellweger und Rigobert Song einen risikofreudigen Weg in Richtung Nichtabstiegsplätze gegangen. Beide waren erst vor wenigen Tagen zu den Kölnern gestoßen und sollten gleich von Anfang an dem Defensivgefüge Lienens mehr Stabilität verleihen. „Ich habe es ihnen zugetraut, weil sie beide viel Selbstvertrauen ausgestrahlt haben“, erklärte Lienen. Der Kapitän der Nationalelf Kameruns, Rigobert Song, erhob die zweikampfbetonten Duelle im Abstiegskampf gleich zu seiner heimlichen Leidenschaft: „I love it.“

Eine Liebe, die bei St. Pauli erst wieder entflammt werden muss, will man den Klassenerhalt noch erreichen. Mit sieben Punkten aus 14 Spielen ist man der schlechteste Tabellenletzte seit Einführung der Drei-Punkte-Regel in der Saison 1995/96. Die Bedeutung für den Stadtteilklub, in der Bundesliga dabei zu sein, ist spielerisch kaum wahrzunehmen. „Uns muss auch wieder klar werden, wie schwer es wäre, wieder aufzusteigen“, wahrsagte ein kritischer Nico Patschinski. Von elf neu verpflichteten Spielern, die Trainer Dietmar Demuth vor allem perspektivisch ausgewählt hat, haben mit Jochen Kientz und Oliver Held nur zwei Bundesligaerfahrung. Der Rest tut sich schwer auf der Erstligabühne. Das hat auch Dietmar Demuth erkannt: „Individuelle Fehler kann man nicht durch Training abstellen“, erklärte der Coach zum ungeschickten Foul seines Abwehrspielers Amadou an der Eckfahne, das zum 0:2 führte, und zahlreichen weiteren Fehlern.

In den 14 bisherigen Partien probierte der Trainer vieles aus: In den ersten Spielen stellte er seine Mannschaft defensiv ein und verlor. Anschließend öffnete er die Reihen ein wenig, ließ mehr über die Außen spielen, gewann einmal mit 4:0 gegen Cottbus, um dann wieder zu verlieren. Auf die lange Verletztenliste will Demuth nicht verweisen. Wichtiger ist ihm die Feststellung, das er selbst die simpelste aller Aufsteigerstrategien nicht einlösen kann: Beton anrühren. Selbst wenn er wollte, könne er hinten nicht dichtmachen: „Ich hab’ ja nicht mal Beton.“ Aber auch im Spiel nach vorne gelingt St. Pauli nichts. „Wir haben keine Durchschlagskraft“, mosert Demuth, außerdem könne man nicht schon nach 30 Minuten die „Brechstange rausholen“. Ein Mittel, dem in den letzten zwanzig Minuten der Partie wenigstens vereinzelte Torchancen für St. Pauli und das Anschlusstor durch Cory Gibbs entsprangen. Das man erst zurückliegen muss, um befreit aufzuspielen, wollte aber niemand als Lösungsansatz für die kommenden Spiele akzeptieren.

St.-Pauli-Manager Stephan Beutel schon gar nicht. Er entzog Spekulationen über zukünftige Motivationsprobleme direkt den Nährboden. „Wir haben immer zweigleisig geplant. Auflösungserscheinungen wird es bei uns nicht geben.“ Gespräche sollen helfen, vorzeitige Abwanderungsgedanken von Spielern zu unterbinden. Nach Demuth ist es dafür jetzt am wichtigsten, in den kommenden vier Spielen „den Anschluss nicht komplett zu verlieren, damit man in der Winterpause noch motiviert arbeiten kann“. Dazu will der Trainer versuchen, seinen Spielern klar zu machen, das die „Saison noch mal von vorne anfängt“.

Die Hoffnungen der Fans sind andere. „Hauptsache, wir gewinnen zweimal gegen die Rothosen“, sagte Holger Stanislawski erwartungsfrei nach dem Aufstieg und meinte Siege gegen den Lokalrivalen HSV. Im Stadtderby am kommenden Sonntag geht es für St. Pauli also um das Einlösen von Versprechungen. Es sieht danach aus, als könne dies ein realistischeres Ziel sein als der Klassenerhalt.

FC St. Pauli: Bulat - Stanislawski - Amadou (75. Patschinski), Gibbs - Held (65. Baris), Berre (43. Rath), Bürger, Meggle, Rahn - Cenci, Marcao1. FC Köln: Pröll - Zellweger, Cichon, Song - Cullmann, Reeb (57. Dziwior), Sinkala (79. Lottner), Springer - Scherz, Kurth, Reich (83. Sichone)(28.), 0:2 Zellweger (31.), 1:2 Gibbs (88.); Rote Karte: Patschinski (90.) wegen groben Foulspiels