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Tränen aus dem Existenzloch

Tradition in Jetztzeit – das Münchner Spielart-Festival als Forum für frankokanadische Theaterentdeckungen

Die Möwe ist groß und tot und an die Wand genagelt. Rechts und links von ihr: Erinnerungsfotos. Der Rest der Wand ist nackt und patiniert, als müsste sie nach Erde riechen. Davor: bloß alte Stühle und schwerblütige Menschen. Und dennoch ist der Inszenierung ein Rest von Leichtigkeit geblieben – eine Ahnung von Flügelflattern und lauer Luft ebenda, wo eigentlich der Holzhammer der Didaktik niedersausen müsste: Denn Regisseur Serge Denoncourt lässt nicht nur Anton Tschechows unglücklich Begehrende auf die Bühne los, sondern auch ihre Darsteller mit ihren Einfühlungsproblemen und Eitelkeiten.

„Ich bin eine Möwe (nein, das ist es nicht)“ ist ein Tschechow-Lehrgang nach dem Motto „Was will der Autor uns sagen?“. Und dass das nicht peinlich ist, dass die Übergänge zwischen Spiel und Probe sogar wie verwandte Melodien ineinander greifen – das ist die gute Nachricht. Dagegen das Rollenspiel selbst? Nun, es wirkt ein wenig brav, was da auf dem Münchner Spielart-Festival als Europapremiere zu sehen ist. Und es entspricht schon gar nicht dem Klischee vom Bilderreichtum des frankokanadischen Theaters und von der süffigen Poesie, die man damit assoziiert, seit Robert Lepage in den Achtzigern mit seiner „Drachentrilogie“ international Furore machte: Ohne Angst vor Kitsch und unter Einbeziehung unterschiedlicher Medien und Realitätsebenen. Lepage, sagt der „Möwe“-Regisseur Serge Denoncourt, und die Lepage-Actrice Marie Brassard nickt dazu – Lepage macht einen ganz anderen Job, „spielt auf Chinesisch, Englisch, Deutsch“ in China, England, Deutschland, während er selbst das Québecer Joual bevorzugt oder allenfalls Französisch. „Damit kann man in den Vereinigten Staaten nicht auf Tour gehen.“

Dafür bespielt Denoncourt als einer der erfolgreichsten Regisseure Kanadas mit seinem Théâtre de l’Opsis das zweitgrößte Haus in der 3-Millionen-Stadt Montréal. Vergleichbar etwa mit einem deutschen Stadttheater, nur mit viel weniger Subventionen und der Freiheit, etwas für Québec ganz Ungewöhnliches zu wagen: Klassikertheater.

Die Provinz Québec ist eine Insel in Amerikas Norden, und die Entscheidung, auf der Bühne Québecer Französisch zu sprechen, durchaus ein Statement. Das heißt, in der Klemme zwischen dem Nachbarn USA und der Kolonialmacht Frankreich laut „hier!“ zu schreien: „Zu zeigen, dass wir existieren“, wie Marie Brassard sagt. Ähnlich wie bei den Katalanen in Barcelona scheint das auch in Kanada am besten mit Kunst zu gehen, und so soll das kulturelle Leben in Québec besonders wild pulsieren. Die kleine Enklave hat „die höchste Konzentration von Schauspielern pro Stadt weltweit“, meint Denoncourt. „Wenn man in Montréal ist“, da sind sich beide einig, „kann man die kreative Energie geradezu fühlen.“

Nach München kam Marie Brassard mit ihrer ersten eigenen Arbeit, wobei sie bereits bei Lepage ihre Charaktere selbst geschrieben und entwickelt hat. „Jimmy, créature de rêve“ („Jimmy Traumgeschöpf“) spielt im Niemandsort zwischen zwei Träumen. Dort weint der schwule Friseur Jimmy bittere Tränen, hat er doch wenig Aussicht, in den Traum jenes Generals zurückzugelangen, der ihn als homophobes Klischee erfand und beinahe mit dem schönen Mitchell zusammenkommen ließ. Doch kurz vor dem ersten Kuss versagte das Herz des Träumers. Erst 50 Jahre später findet Jimmy aus seinem Existenzloch, nur um durch die „schlecht konstruierten“ Träume einer Schauspielerin geschaukelt zu werden und durch wieder neue, zusehends chaotischere Existenzformen. Brassard spielt dieses atemberaubend dicht gepackte Solo in Männerkleidung, mit nackten Brüsten und elektronisch verzerrter Stimme. Mit maskenhaftem Gesicht, als müsste er sich an Mimik erst gewöhnen, und äußerst sparsamen Bewegungen hat sie ihren „Jimmy“ ganz aus der Sprache heraus entwickelt und doch mit einer Komik ausgestattet, die sich nicht durch Zitate belegen lässt.

Die Idee für dieses „philosophische Stück über die menschliche Existenz“ geht auf eine Kindheitsvorstellung Marie Brassards zurück, nach der geträumte Personen und Orte in einer Parallelwelt weiterexistieren müssten: „Was tun sie dort, wenn ich sie nicht träume?“ Dass die Produktion in Montréal ein Riesenerfolg ist – geschenkt. Den Furor um die „Möwe“ aber kann man wohl nur verstehen, wenn man den europäischen Blick ablegt und die jahrhundertealte Theatertradition, die ihn beschwert.

„Wir in Québec“, sagt Denoncourt, „wir machen unsere Tradition eben jetzt.“ Zwischen der visuell-minimalistischen Linie Frankreichs und dem psychologischen Realismus Nordamerikas versucht das frankokanadische Theater seit etwa zwanzig Jahren etwas Eigenes zu finden. Das macht auch den Charme dieser „Möwe“ aus. Sie findet das „Eigene“ ganz unverkrampft dort, wo wir es nicht mal suchen würden, weil sie nicht „modern“ sein muss – und auch nicht erst das Erbe von Peter Stein abschütteln muss. Brassard und Denoncourt: sie werden auch im Festivalprogramm als ästhetische Gegenpole verkauft. Das sind wieder die Europäer, meinen die beiden. „Dass man wissen muss, für welche Sorte Theater man steht und welche die beste ist.“ Das Rezept aus Québec: Spielen. Alles, was Spaß macht. SABINE LEUCHT

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