: Shopp, shopp, shopping
Im Supermarkt sollte der Käufer stets hellwach bleiben – sonst hebt er ab
Kaufen, Einkaufen, behaupten Leute, die ich sonst für zurechnungsfähig halte, Einkaufen sei wichtig, solle Spaß machen, ein Erlebnis sein, ein Event sogar. Event-Shopping, klar. Man muss das wohl oder vielmehr übel akzeptieren. Und auch wenn einem jene spezielle Euphorieerfahrung noch nie zuteil wurde, weiß man doch instinktiv, dass man in seiner staatsbürgerlichen Eigenschaft als Kunde einer gewissen Verantwortungsethik verpflichtet ist, gerade weil das idealtypische Kaufen bzw. Einkaufen quasi auch Grundvoraussetzung eines friedlichen Zusammenlebens der Völker ist.
Diese kernkompetente Verantwortung teilt sich also gewissermaßen in das Recht auf einen vergnüglichen Einkauf und andererseits in die Pflicht, beispielsweise möglichst pausenlos möglichst viel Geld ins Wachstum zu pumpen, damit der Binnenkonjunkturmotorhead munter pockert, statt zu stottern. Zur Basisausstattung im Anforderungsprofil des selbstverständlich kritischen Konsumenten gehört vieles, vor allem aber, des Lesens und Hörens mächtig zu sein.
Im Supermarkt beispielsweise sollte man hellwach sein. Nicht so unaufmerksam wie ich, als ich las, dass ein Kilogramm „Speiseröhren“ nur 85 Pfennig koste. Ein weiterer Verleser war politisch erheblich brisanter. Von der Decke im HL-Markt hing ein Schild, auf dem ich „Heil Kunden!“ entzifferte. Das Wort Geschäftsführer bekam für mich augenblicklich einen neuen Sinn. Es war falscher Alarm. Ein anderes Schild hatte die Zeile darüber verdeckt, und die Anrede des Filialleiters lautete schlicht und unverfänglich: „Liebe HL Kunden!“
Ohnehin ist der Berufsstand der Filialleiter von Super- oder Baumärkten viel zu oft Ziel angeblich satirischer Scherze. Dass sie auch anders können, bewies ein Aushang an der Kasse eines Penny-Markts. Mein Einkaufswagen und ich standen dort kürzlich einem sprachlichen Kunstwerk gegenüber, das umso erstaunlicher war, als es in einer ungelenk wirkenden Handschrift daherkam. Ein Satz, wie ihn Kant, Hegel und Adorno zusammen kaum elaborierter hätten formulieren können: „Liebe Kunden! Sollten Sie während Ihres Einkaufs feststellen, dass Sie einen Artikel nicht mehr benötigen, den Sie aber schon in Ihrem Einkaufskorb liegen haben, legen Sie den Artikel nicht irgendwo ab, wo er nicht hingehört, sondern wieder dorthin zurück, wo Sie ihn entnommen haben.“
Während Sie jetzt bitte die Anzahl der Nebensätze ermitteln, kehre ich in den HL-Markt zurück. An der Kasse überm Quengelwarenregal hängt eine Schnur von der Decke, ein Kabel, an dem unten ein Knopf dran ist: „Sie brauchen nur zu klingeln, dann wird eine weitere Kasse geöffnet.“ Aus gutem Grund drückte neulich jemand drauf: Die Schlange vor der Kasse glich einer Hydra. Sofort ertönte eine Frauenstimme: „Danke für Ihren Hinweis. Wir öffnen gleich eine weitere Kasse.“ Vor dem Gleich passierte folgendes: Einige der Wartenden richteten ihren Einkaufswagen so aus, dass sie gleich starten konnten, um an die Kasse, die gleich geöffnet werden sollte, als Erste zu stürmen: „Danke für Ihren Hinweis. Wir öffnen gleich eine weitere Kasse.“ Inzwischen waren der Schlange mehrere Wurmfortsätze gewachsen, und jemand anders klingelte erneut. „Danke für Ihren Hinweis. Wir öffnen gleich eine weitere Kasse.“ Durch die Eingangstür sah ich plötzlich, wie die Häuserfassaden gegenüber abwärts sanken, und schloss daraus, dass wir alle, der Supermarkt, die anderen und ich, uns aufwärts bewegten. Wie ein Raumschiff, dachte ich. „Danke für Ihren Hinweis. Wir öffnen gleich eine weitere Kasse.“ Tatsächlich war jetzt nur noch das Blau des Himmels draußen zu sehen, drapiert mit ein paar mäßig gehenden Wolken. Nein, nicht wie ein Raumschiff, wie ein Ufo, eine fliegende Untertasse, die irgendwie auf dem Weg in eine andere Galaxie war, in der bereits all die Menschen auf uns warteten, die parallel zu uns im Hotline-Inferno einer Call-Center-Kette gebraten wurden. „Danke für Ihren Hinweis. Wir öffnen gleich eine weitere Kasse.“ Vom Start unseres ferngesteuerten Flugobjekts hatten die anderen Kunden nichts mitbekommen, sondern mufften geduldig vor sich hin. Etliche sahen nicht so aus, als ob zu Hause jemand auf sie wartete. Ein Hund vielleicht, eine Katze, aber . . . „Danke für Ihren Hinweis. Wir öffnen gleich eine weitere Kasse.“ Wenigstens hatten wir genug Proviant an Bord. Trotzdem hätte ich auf diesen Ausflug doch gern verzichtet. Danke für Ihren Hinweis. Danke für Ihren Hinweis . . .
Na, hörte ich plötzlich eine Stimme, mach mal voran! Ich stutzte, blinzelte, und alles war in Ordnung, an seinem Platz. Wir waren raus aus der Endlosschleife, die Supermarktvision war vorüber, die zweite Kasse geöffnet. Ich bezahlte und war weg.
DIETRICH ZUR NEDDEN
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