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Notorischer Hang zu neuen Pfaden

Horace Engdahl, Sekretär der Schwedischen Akademie, kann sich unter vielen Literatur-Nobelpreisträgern tummeln

Normalerweise steht er nur einmal im Jahr im Rampenlicht. Horace Engdahl. Hinter seinem ziemlich nichtssagenden Titel „ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie“ verbirgt sich nämlich nicht nur die Aufgabe, die MitgliederInnen dieses ehrwürdigen Gremiums zu regelmäßigen Zusammenkünften zusammenzurufen und diesen vorzusitzen, sondern auch an einem – meist ist es der erste oder zweite – Donnerstag im Oktober, Punkt 13 Uhr jene berühmte weiße Tür zu öffnen, vor der Hunderte von MedienvertreterInnen schon ungeduldig warten und die Kameras und Mikrofone für die Direktübertragung von Stockholm in alle Welt bereitstehen. „Der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur ist . . .“

Zum hundertsten Jahrestag des Nobelpreises darf Engdahl in diesem Jahr noch einen zusätzlichen Auftritt haben. Das jährliche Nobelfest in Stockholm wurde zur Ehre des runden Geburtstags nämlich zu einem Jubiläumstreffen aufgewertet, bei dem heute und morgen über „Literatur als Zeugnis“ debattiert wird. Von Günter Grass bis zu Nadine Gordimer werden alle PreisträgerInnen der letzten zehn Jahre erwartet. Und da ist Engdahls Akademie noch zurückhaltend gegenüber den Auswahlgremien der anderen Nobelpreisdisziplinen, die bei den Einladungen ihrer ExpreisträgerInnen zum Teil bis in die Fünfzigerjahre zurückgehen und gleich vier bis fünf Dutzend aufbieten.

Der 52-jährige Mathematikprimus – „Aber irgendwann fand ich das nicht mehr cool und wurde Humanist“ – ist mehr als nur das Sprachrohr der Akademie, deren Entscheidung Buchverlagen ein zusätzliches Weihnachtsgeschäft sichert und zumindest einige Tage die Kulturseiten mit aufgeregtem Pro und Contra füllt, wenn es wieder einen viel zu Populären oder einen viel zu Unbekannten getroffen hat. Und er hat mehr als nur die eine womöglich ausschlaggebende Stimme.

Der „Sekretär“ kann seinen Vorsitz durchaus dazu benutzen, die Auswahl der letzten fünf Kandidaten, die spätestens nach den Sommerferien unter allen möglichen PreisträgerInnen ausgesiebt wurden, ein Stück weit zu beeinflussen. Einigkeit muss im Gremium herrschen und so kann sich im Lauf der Jahre eine gewisse Handschrift des „Sekretärs“ herauslesen lassen. Engdahls Vorgänger Sture Allén hat man vorgeworfen, zu konfliktscheu gewesen zu sein und deshalb möglichst auf unkontroverse PreisträgerInnen hingearbeitet zu haben. Horace Engdahl sagt man Mut zu unerwarteten Entscheidungen und noch nicht ausgetrampelten Pfaden nach. Gerade eben hat er mal wieder auffallend zustimmend auf Fragen reagiert, ob nicht auch etwa mal ein Songtexter als Preisträger möglich wäre – zumindest Bob Dylans musikalisches Werk scheint Engdahl nicht unbekannt zu sein.

Die Linie zwischen neuen Pfaden und Bleibendem, zwischen Zeitgeschmack und literarischem Urteil zu finden, das bedeutet für Engdahl und seine KollegInnen vor allem reinste Knochenarbeit. 80 bis 100 Kilogramm Bücher sind der Preis, oberster Juror des nach wie vor angesehensten Literaturpreises sein zu dürfen. „Lesekrisen darf man sich da nicht leisten“, sagt der ehemalige Redakteur einer Kulturzeitschrift und Literatur- und Tanzkritiker Engdahl, der die Romantik als literarisches Spezialgebiet hat.

REINHARD WOLFF

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