: Die Krankheit ist stärker als der Arzt
„4.48 Psychose“ oder die Todesarten der Generation Golf: Falk Richter inszeniert Sarah Kane letztes Theaterstück hochgeschraubt an der Schaubühne – als sei heute die Psychose das, was bei der Kameliendame die Tuberkulose war
Zuerst war die britische Dramatikerin Sarah Kane ein böses Mädchen, das schlimme Stücke schrieb. Die Theaterkritik empörte sich in Serie und plädierte auf kalkulierten Skandal. Nur wer genau hinhörte, hörte hinter dem Grauen die Sprache einer großen Dichterin. Trotzdem war sie schon zu Lebzeiten Kult. Neben Marc Ravenhill war sie der zweite große Star der neuen britischen Dramatik, die seit der Mitte der Neunzigerjahre auch hierzulande Furore machte. Als sich Sarah Kane 1999 erhängte, war das Erstaunen in den Feuilletons groß. Hatte Sarah Kane etwa alles ernst gemeint? Angesichts ihres Selbstmordes jedenfalls wurde seitdem bloß noch ehrfürchtig geraunt. Ihre Todesart hat sie außerdem endgültig zur Ingeborg Bachmann der Generation Golf gemacht.
Kanes letztes Stück führt eine Uhrzeit und ein Krankheitsbild im Titel: „4.48 Psychose“ und man kann darin die Chronik eines angekündigten Todes lesen. Es gibt keine Rollen, der Text ist ein Konvolut von Sätzen, die sich mal als Monolog, ab und zu auch als Dialog zwischen fragmentarisch gezeichneten Figuren lesen lassen. Am deutlichsten werden dabei ein Psychiater und seine Patientin erkennbar. Um 4.48 Uhr in der Frühe gibt die Psychose ihr Opfer für eine Stunde und zwölf Minuten aus der Umklammerung frei. Ein Moment von Klarheit und Selbstbestimmung tritt ein – ein Moment, den die Frau nutzt, um die Entscheidung zu fällen, ihr Leben zu beenden.
Falk Richter, der „4.48 Psychose“ jetzt an der Schaubühne inszenierte, hat den Text auf vier Rollen verteilt: auf drei Frauen und einen Mann. Das Ambiente hat die anonyme Eleganz (Bühne: Katrin Hoffmann) moderner Büros: Ledersessel und Wände aus Glas, die sich mit wenig Anstrengung durch die Akteure verschieben lassen. Es entstehen immer neue Raumkonfigurationen. So, wie auch die Figuren ihre Konstellationen zueinander verändern. Mal sprechen sie allein, mal miteinander, dann wieder im Chor oder nebeneinander her. „Ich bin hier das Thema meiner wirren Fragmente“, heißt es einmal – klarstellend, dass hier jedoch vier Variationen einer Person auf der Bühne stehen. Aus diesen wirren Fragmenten entsteht dann das recht klare Bild einer Krankheit zum Tod, die zunächst noch mit ärztlicher Hilfe bewältigt werden soll.
Doch der Arzt ist schwach, gegen die Widersprüche des Lebens und die Angst vor den Dingen, die einem wirklich geschehen, will er Psychopharmaka verschreiben. Nicht nur die Krankheit, auch die Patientin selbst ist viel stärker. Weshalb der Freitod ein Akt der Souveränität ist.
Das ist in einer Sprache geschrieben, die lakonisch noch den unerträglichsten Schmerz beim Namen nennt. Die von der Schaubühne verwendete deutsche Übersetzung, die immerhin von Durs Grünbein stammt, verfehlt diesen Ton leider genau. Die Sprache wird oft bis ins Pathetische hochgeschraubt, dass sich manchmal der Eindruck herstellt, die Psychose sei den jungen Autoren von heute das, was den jungen Autoren zu Zeiten der Kameliendame die Tuberkulose war. Ständig will die Übersetzung klüger sein als das Original, wird poetisch seziert, wo bei Sarah Kane ganz einfach nur ein Zustand konstatiert wird.
Dieser Anspruch der totalen ästhetischen Durchleuchtung wird vom Bühnenbild bekräftigt. In den Glaswänden flimmern Mikroskopbilder von Zellkernen, Bakterien oder Gehirnganglien, untermalt von einem intensiv dröhnenden Bassrauschen (Musik: Malte Beckenbach). Wir sollen also in das Innere der Psychose wie in das Innere dieser vergrößerten Organismen blicken. Aber was sehen wir da? Die Darsteller sehen alle schrecklich gesund aus. Jule Böwe nölt bockig ihre Texte. Bibiana Beglau spielt zwischen Trotz und Melancholie hin und her. Sylvana Krappatsch (in Lederjacke wohl ein bisschen als Sarah-Kane-Double gemeint) untermalt die Psychose mit rebellischem Jungmädchencharme. Kay Bartholomäus Schulze guckt zwar traurig, aber wie ein WG-Bewohner, an dem immer der Abwasch hängen bleibt. In Momenten des größten Seelenschmerzes wird dann unisono einfach leer geradeaus gestarrt. Vier Personen suchen einen Selbstmord. ESTHER SLEVOGT
Nächste Vorstellungen: 7., 8. u. 9. 12, 20.30 Uhr
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