■ Hier versagen nicht die Ungebildeten, sondern die gebildeten Geistlosen: Zwang verdirbt die Lernlust
betr.: „Rabeneltern mit schlechten Schülern“, „Schulstudie macht Minister nervös“, taz vom 6. 12. 01
Abgesehen von der Fragwürdigkeit jeder Art von Prüfungen finde ich es besorgniserregend, wie hierzulande mit diesem internationalen Vergleich umgegangen wird. Man sollte sich ein Beispiel an Dänemark nehmen. Dort sagten mir Bildungspolitiker, dass ihnen Vergleiche egal seien und ihnen in erster Linie das Wohlbefinden der Schüler wichtig sei. Das ist eine wichtige Erkenntnis, denn hier geht die Entwicklung anscheinend zu mehr Leistungsdruck und es wird die Situation der Schüler konsequent ignoriert. Es ist zunächst notwendig, unseren Lernbegriff zu untersuchen.
Für die meisten ist Lernen etwas Unangenehmes und Lästiges. Und wir wissen, dass es „Hassfächer“ gibt, von denen die meisten im naturwissenschaftlichen Bereich liegen (dicht gefolgt von Französisch). Das sind auch die Fächer, die am schlechtesten abgeschnitten haben. [. . .]
Der Mensch ist von Natur aus ein lernhungriges, selbständiges Subjekt. Die Ursache für die Schulverdrossenheit und somit schlechte Leistung liegt in der autoritären Struktur der Schule, sowie an ihrem menschenfeindlichen Grundgedanken und Lernbegriff. [. . .] Unsere Schule ist alles andere als „modern“ und zu starr in ihrer Struktur, um irgendwas Grundlegendes daran zu ändern. Ob die Menschenrechte auch irgendwann Einzug in die Schule halten werden?
Ein neues freiheitlich-demokratisches Bildungssystem muss her. Durch Zwang stirbt mit der Lernlust auch die Leistung. Wer selbständig denkende und lernende Menschen will, muss sich gegen Zwang und für konsequente Selbstbestimmung aussprechen. Wer als Konsequenz mehr Zwang (Ganztagsschulen, Vorschule, bei gleich bleibenden Verhältnissen) möchte, erreicht nicht mehr Leistung, sondern eher mehr Selbstmorde. Schule sollte ein Ort zum Lernen werden, statt wie jetzt ein Ort zu bleiben, in dem Menschen vollkommen willkürlich in Gesellschaftskasten selektiert und unselbstständig gemacht werden. Außerdem müssen auch Schülervertretungen und Kinderrechtsprojekte in die Diskussion miteinbezogen werden. [. . .] SABINE STELDINGER, Berlin
Nun denn, mein Gemüt ist außerordentlich aufgewühlt! Abgesehen davon, dass das deutsche Bildungssystem hinsichtlich der gesellschaftlichen Überlebensfähigkeit im Wesentlichen dissoziale Kommunikationskrüppel heranzieht, vermutlich damit alles beim Alten bleibt, ist der Test Pisa als internationaler „Leistungsvergleich“ eine Farce, im Übrigen ebenso wie der Test von 97.
[. . .] Die nationale Katastrophe sitzt an den Tischen der Bildungspolitik mit einer eigenartigen elitären Teleologie. Wenn ich mir in diesem Zusammenhang die wirtschaftlichen Probleme betrachte, dann lautet eine mögliche, wenn auch gehässige Interpretation in etwa so:
Unsere hoch begabten, hoch gebildeten und verdienten Manager in Wirtschaft und Politik haben gar keine Chance, etwas zu aller Zufriedenheit der Staatsbürger zu verbessern, weil die Masse der Staatsbürger so blöde sind, dass diese sich gar nicht be-managen lassen. Deshalb brauchen wir wohl auch wieder starke Führer wie Schill.
Nein! Die Vollidioten sind unter den intellektuellen, besitzstandhütenden Sesselfurzern zu suchen, welche keine anderenMeister über sich dulden. Hier versagen nicht die Ungebildeten, sondern die gebildeten Geistlosen! ARNE REETZ-CHRIST, Stade
betr.: „Wo steht denn das Kind“, Interview mit Annette Schavan, taz vom 7. 12. 01
Das Interview mit der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan zu Pisa legt nahe, einen Leistungsvergleich für die deutschen KultusministerInnen zu fordern. Sie besitzt die Kühnheit, Baden-Württemberg als Vorbild für die Förderung im Elementarbereich zu preisen. Doch das einzige, was Baden-Württemberg hier tatsächlich vorweisen kann, ist die Umsetzung des gesetzlich vorgeschriebenen Rechts auf einen Kindergartenplatz.
Eines der reichsten Bundesländer bietet dagegen im bundesweiten Vergleich die wenigsten Plätze für Kinder bis drei Jahre und am wenigsten Hortplätze an. In den großen Gruppen der Kindertageseinrichtungen ist eine Umsetzung des im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) vorgeschriebenen Bildungsauftrags nicht möglich.
Das Ende November von der Landesregierung beschlossene Kinderbetreuungskonzept ab 2003 ist so mager ausgefallen, dass Baden-Württemberg weiterhin Schlusslicht bei der Betreuung und Bildung der Kleinsten bleiben wird. Und in Schavans Ministerium liegt jetzt ein Reformvorschlag für die ErzieherInnenausbildung vor, bei dessen Umsetzung in Baden-Württemberg ausgebildete ErzieherInnen in anderen Ländern allenfalls noch als AnimateurInnen in Ferienclubs arbeiten könnten.
MATTHIAS SCHNEIDER, Pressereferent der Gewerkschaft
Erziehung und Wissenschaft (GEW) Baden-Württemberg
„Jetzt wissen wir, Kinder sind schon sehr früh lernbegierig.“ Unglaublich, diese Aussage. [. . .]
Das beklagte Abschneiden der Jugendlichen bei Pisa wird wohl kaum daran liegen, dass Schüler in Deutschland zu wenig verordnet bekommen. Die Befürworter unseres Pflichtschulsystems, des undemokratischsten Übrigbleibsels früherer Gesellschaftsordnungen (selbst Wehrdienst lässt sich verweigern), werden so lange keine gleichberechtigte pluralistische Lernkultur zulassen, wie sie glauben, dass sie besser wüssten, was Schüler lernen müssen. Bleibt zu hoffen, dass jetzt auch von entscheidender Stelle eingeläutet wird, was schon lange – bestimmt seit es Schule gibt – von SchülerInnen vermisst und gefordert wird: Mitbestimmung.
CHRISTOPH KLEIN, Berlin
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