Der Gesichtsentdecker

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Ich ertrage Unordnung nicht. Ich bin eigentlich nur Physiker aus Ordnungsliebe geworden. Um die scheinbare Unordnung in der Natur auf eine höhere Ordnung zurückzuführen. (aus Friedrich Dürrenmatt: „Die Physiker“)

Im Büro des Physikers Christoph von der Malsburg sieht es aufgeräumt aus. Fein säuberlich stehen in einem langen Wandregal Dutzende roter Bände des Wissenschaftsmagazins Scientific American neben Videokassetten „The mind“ und „Selbstformung“ oder dem Duden und dem Autoatlas. Im hinteren Teil des Raumes ein kleines Sofa und vier Stühle um einen Tisch. Die Wände bestehen aus weiß gepinselten Ziegelsteinen. Nicht hässlich, aber eher lieb- denn zeitlos. Am Fenster ein Stehpult mit Computer. Auf dem Fenstersims ein Kaktus und ein Usambaraveilchen. Ein bescheidenes Reich für einen renommierten Gehirnforscher und Inhaber des Lehrstuhls für Systembiophysik am Institut für Neuroinformatik der Universität Bochum. Immerhin entstehen hier biometrische Sicherheitssysteme, für die sich in jüngster Zeit verstärkt Politiker wie Otto Schily interessieren.

Es war nicht die Suche nach Ordnung, die den 59-jährigen Prof. Dr. rer. nat. zur Physik brachte. Es war die Neugierde. Seit seinem 13. Lebensjahr wollte von der Malsburg wissen, „wie die Welt funktioniert“. Also hat er Elektromotoren und Windräder gebastelt. „Ein großer Held war ich damals nicht“, sagt er. Doch als er später Glühlampen zum Leuchten brachte und Radios bastelte, hat ihn das „schon sehr mit Stolz erfüllt“.

Mit 16 Jahren wollte er wissen, wie das Gehirn funktioniert, und vier Jahre später entwickelte der Sohn eines Landwirts und einer Hausfrau seine erste Theorie über die Arbeitsweise des Gehirns. Die so genannte Lämpchentheorie. Die Idee dahinter: Das Gehirn ist voller Elementarsymbole, und die Nervenzellen gehen wie Lämpchen an und aus. Soll das Auge ein rotes A und ein grünes B erkennen, sind vier Gruppen von Zellen beteiligt – vier Lämpchen gehen an. Versuchspersonen, die nur einen kurzen Blick auf die Buchstaben werfen, verwechseln die Farben. Eine Frage der zeitlichen Bindung. Von seinen Studienkameraden wurde von der Malsburg belächelt, und auch später, als er längst am neurophysiologischen Institut in Göttingen promoviert und an der Universität von Südkalifornien gearbeitet hatte, nahmen viele Kollegen auch seine reiferen Ideen zum Verstehen des Sehens nicht ganz für voll. „Man ist wie ein Außenseiter“, sagt von der Malsburg. In seiner Klage klingt auch Genugtuung mit.

Von der Malsburg findet Anerkennung in der Technik. Anfang der 90er-Jahre, als die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen Forschungsmittel der EU zu verteilen hatte, gründete er zusammen mit einem Kollegen die ZN Vision Technologies AG. In dem zweistöckigen Gebäude, wenige Meter von seinem Universitätsbüro entfernt, werden Hirnfunktionen auf Computer modelliert und in Gewinn bringende Überwachungssysteme umgesetzt. Mittlerweile hat ZN Vision weltweit etwa 200 Abnehmer. Banken, Firmen, Flughäfen und Kernkraftwerke stellen so den Zugang zu Hochsicherheitsbereichen sicher. In Casinos werden notorische Spieler erkannt und ausgesperrt, und in Fitnessstudios gibt es kein Schummeln mehr mit der Mitgliedskarte der Freundin. Die Firma rühmt sich, führend auf dem Markt der Gesichtserkennung zu sein. Innovationspreis der deutschen Wirtschaft und weitere hoch dotierte Preise veredeln die Erfolgsbilanz. Exbundespräsident Roman Herzog zeichnete das Unternehmen im Rahmen der Initiative „Mutige Unternehmer braucht das Land“ aus. Und seitdem am 11. September zwei Flugzeuge in die Twin Towers in New York rasten, boomt die Nachfrage nach erhöhter Sicherheit durch die Identifizierung mit Körpermerkmalen. Deshalb will ZN Vision seine Mitarbeiterzahl von derzeit 70 verdoppeln. „Der Markt ist seit dem 11. September um fünf Jahre gereift“, sagt von der Malsburg. Als Privatperson sei er „geschockt“ gewesen über die Attentate. Doch: „Als Geschäftsmann lebe ich mit den Märkten so, wie sie entstehen“.

Es geht um die Freiheit unserer Wissenschaft und um nichts weiter. Wir haben Pionierarbeit zu leisten und nichts außerdem. Ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir ihr bahnen, ist ihre Sache, nicht die unsrige.

Von der Malsburg macht kein Geheimnis daraus, wohin er strebt: Er will mit der Gesichtserkennung per Computer nicht nur beweisen, dass seine Thesen über das Gehirn stimmen. „Ich will Weltmeister in der Gesichtserkennung werden.“ So, wie das von der Malsburg sagt, klingt das nicht größenwahnsinnig. Er sagt das in dem gleichen unspektakulären Ton, in dem er einräumt, dass er bei der Technik im Alltag kapituliert. „Fahrkartenautomaten kann ich nicht bedienen.“

Betritt von der Malsburg die von ihm gegründete Firma, muss er durch eine Zugangskontrolle, die ursprünglich für die Kernkraftindustrie entwickelt wurde und „ZN Face“ heißt. Er steckt eine kleine weiße Plastikkarte mit einer Nummer in den Schlitz einer Metallsäule, an deren oberem Ende ein kleiner schwarzer Bildschirm steckt. Dahinter verbirgt sich eine Infrarotkamera, die ihn fotografiert. Auf einem Computer wenige Meter dahinter legt sich über dieses Bild und ein gespeichertes Foto von ihm ein rotes Gitternetz. Koordinaten, die auf Auge, Nase und Mund gelegt werden, vermessen in Sekundenschnelle sein Gesicht. 1.700 Merkmale. Hätte von der Malsburg plötzlich einen Dreitagebart oder ein Doppelkinn oder würde um einige Jahre altern – das System würde ihn trotzdem identifizieren. Nur wenn er sich eine Strumpfmaske aufsetzen würde, bliebe die Tür verschlossen. Der Zugang würde auch dann versperrt bleiben, wenn sich jemand eine Latexmaske mit dem Gesicht des Physikers anfertigen würde. Gerne erzählt von der Malsburg, wie auf der letzten Cebit in Hannover eineiige Zwillinge das System überlisten wollten. Mit einem spöttischen Zug um den Lippen sagt er: „Es klappte nicht.“ Gefragt nach der Sicherheit, antwortet er: „Schreiben Sie einhundert Prozent.“ Aber auch von der Malsburg weiß, dass es keinen hundertprozentigen Schutz vor Missbrauch gibt. „Wer in Computersysteme einbricht, Drähte anzapft oder Bilder reinfüttert, dagegen ist kein Kraut gewachsen.“

Computerprogramme schreibt von der Malsburg nicht mehr selbst. Sein Arbeitsplatz ist sein Kopf. Was darin vorgeht, kann er nicht sagen. „Dann wüsste ich ja, wie das Gehirn funktioniert“, sagt er und lächelt ganz leicht. Längst sitzt er im Aufsichtsrat des Unternehmens, formuliert Projekte und lässt schreiben. Von Mitarbeitern, die seine Kinder sein könnten. In kleinen Räumen sitzen bis zu vier Mitarbeiter an ihren Bildschirmen und entwickeln Module oder bilden Sehsysteme des Menschen mit Algorithmen nach. Am Ende des Flures im Erdgeschoss steht eine riesige Autorennbahn, wo sich die Mitarbeiter vom PC erholen können. Die Firma wirkt nicht wie ein Science-Fiction-Unternehmen, sondern eher wie eins aus der Start-up-Branche.

Stünden nicht im Eingangsbereich vier Bildschirme, die die Produktpalette von ZN Vision wie eine „Mission possible“ erscheinen lassen: Auf einem PC flimmern Fotos von Verbrechern aus einer US-amerikanischen Datei. Über ein Phantombild legt sich in Sekundenschnelle ein rotes Raster. Kaum ist der Gesichtsgraph positioniert, spuckt die Maschine den Verbrecher Nr. 1423947 aus – einen Doppelmörder. Deutsche, europäische und US-amerikanische Polizeidienststellen machen mit „Phantomas“ bereits Jagd auf Verbrecher. Das System „ZN-Smart Eye“ geht einen Schritt weiter. Es kann ahnungslose Passanten identifizieren. Casinos halten damit bereits nach Berufszockern Ausschau. In Modellversuchen auf Flughäfen oder in Fußballstadien sucht das System aus bewegten Menschenmengen Verdächtige heraus. „Das finde ich wunderbar“, schwärmt von der Malsburg, „das muss diskutiert werden!“

Mit den Systemen, die von der Malsburg entwickelt, ist es theoretisch möglich, Alter, Geschlecht und Hautfarbe von Personen zu bestimmen, ohne dass diese das wissen. So könnte eine Kamera erkennen, ob sie einen Urlauber oder einen Geschäftsmann vor sich hat. Die Vorstellung, dass auf einer elektronischen Reklametafel bei einer Oma Werbung für Kukident oder bei einem Punk für grüne Haarfarbe gemacht wird, beunruhigt von der Malsburg nicht. „Dazu habe ich keine Meinung.“ Es sei „die verdammte Pflicht“ von Wissenschaftlern, frühzeitig klar zu machen, was die Konsequenzen sind. „Es ist ein falsche Ansatzpunkt, von der Wissenschaft zu verlangen, bei der Wahl ihres Gegenstandes dies oder das zu verhindern.“ Die Technik dürfe nicht im Keim unterdrückt werden, „nur weil sie übel ausnutzbar ist“. Schließlich habe die Erfindung des Feuers auch möglich gemacht, dass jemand den Acker seines Nachbarn abbrenne. Von der Malsburg setzt darauf, dass Gesetze Missbrauch verhindern, dass Gesetzgeber und Öffentlichkeit darüber entscheiden, ob sie mehr Sicherheit oder Privatsphäre wollen. Technische Anwendungen sind für von der Malsburg „Nebenprodukte“. Ihn interessiert nur eins: „Ich will verstehen, wie das Gehirn funktioniert.“

Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.

Derzeit wird bei ZN Vision daran gearbeitet, über Kamera und Computer Handlungen von Menschen zu erkennen. Schließt jemand eine Tür auf oder bricht er sie auf? Gibt jemand einer anderen Person die Hand oder sticht er ihr ein Messer in den Bauch? Geht jemand in einem Parkhaus ganz normal zu seinem Auto oder schleicht er sich als potenzieller Vergewaltiger herum? Von der Malsburg lässt seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Seine Finger vergraben sich hinter dem Bund seiner Cordhose. Er sagt: „Das Ideal der völlig freien Beweglichkeit, das sich in der westlichen Gesellschaft über lange Zeit gebildet hat, ist destruktiv.“ Wenn die Menschen aber mit Konsequenzen ihrer Taten rechnen müssten, weil sie überwacht werden, handelten sie anders. Angst, sich irgendwann nicht mehr frei bewegen zu können, hat von der Malsburg nicht. Schließlich arbeitet er derzeit auch an einem „Privacy Filter“. Dieser legt auf Gesichter, die per Videokamera im öffentlichen Raum gefilmt werden, Mosaiksteinchen. Erst mit richterlicher Zustimmung können die Gesichter dechiffriert werden.

Doch ganz frei von Angst ist auch von der Malsburg nicht. Orwells Buch „1984“, in dem ein absoluter Überwachungsstaat geschildert wird, ist für ihn eine „Horrorvision“. Ebenso die Vorstellung, „dass sich der Mensch überflüssig macht“. Der Professor bleibt gelassen. Er lehnt sich im Stuhl zurück, in der Hand einen Kugelschreiber mit der Aufschrift „biowissenschaft.de“, den er langsam hin und her dreht „Es dauert noch eine Weile, bis das der Fall ist“, sagt er und blickt wieder aus dem Fenster. Beruhigend klingt das nicht.