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Wenn man im Alter mehr will als Häkeln . . .

Alte Menschen wollen und können selbstbestimmt leben. Das beweisen sie in Berlin seit 30 Jahren. Ein Weihnachtsnachmittag im „Sozialwerk“

von SUSANNE AMANN

Käte Tresenreuter schüttelt jede Hand. Wirklich jede. Und das will was heißen, denn immerhin sitzen an den Tischen im großen Veranstaltungssaal des Humboldtschlösschens fast 200 Leute. Aber sie arbeitet sich durch, hier ein Lächeln, dort ein freundliches Wort. Wer sie beobachtet, beginnt zu begreifen.

„Kommen Sie vorbei und schauen Sie sich unsere Weihnachtsfeier an“, hatte sie am Telefon gesagt, „dann kriegen Sie einen Eindruck von unserer Arbeit.“ Das Humboldschlösschen ist kein Schlösschen. Von außen jedenfalls ist es eher ein gewöhnlicher 80er-Jahre-Bau, die Fenster mit den immergleichen, unvermeidlichen goldenen Sternen und Lichtern geschmückt. Auffällig nur die vielen älteren Menschen, die an diesem kalten Montagnachmittag in das Haus strömen: Es ist die Weihnachtsfeier des Sozialwerks Berlins.

Das Sozialwerk ist das erste und bundesweit einzige deutsche Hilfs- und Beratungszentrum für ältere Menschen, das ausschließlich von alten Menschen organisiert und geleitet wird. Mehr als 200 Mitarbeiter sorgen hier täglich freiwillig und ohne Geld dafür, dass andere Menschen kommen, sich unterhalten und zu Hause fühlen können, wenn zu Hause niemand ist, der auf einen wartet.

Die Stimmen im Saal werden leiser, der Blick richtet sich nach vorne auf die Bühne, wo klein und ein bisschen gebeugt Frau Tresenreuter steht und die Gäste begrüßt. Sie erzählt von der 30-Jahr-Feier des Zentrums der letzten Woche, der vielen Anerkennung, die es gab. „Da haben wir bewiesen, wie fähig ältere Menschen sind – nicht?“

Käte Tresenreuter ist der Motor des Ganzen, sie hat das Haus gegründet und hält es am Laufen. Es waren die Bettnachbarn im Altersheimzimmer der Großmutter ihres Mannes, die den Ausschlag gaben: Als diese starb, trauerten die Damen weniger um deren Tod, als um den jetzt ausbleibenden Besuch. Für Tresenreuter der erste Anstoß, sich in der Altenhilfe zu engagieren. Kleine Gruppen in der Kirche scheiterten an unterschiedlichen Vorstellungen und zu vielen Auflagen. Tresenreuter begriff, dass sie ihre eigenen Ideen nur in einem eigenen Verein umsetzen konnte – und am Nikolaustag 1971 gründete sie zusammen mit einer Handvoll Leute das „Sozialwerk Berlin“.

Seitdem treffen sich täglich mehr als 100 Menschen, erst in privaten Wohnungen, später in dem Haus in der Humboldtstraße. Sie diskutieren, spielen Karten, kegeln, machen Yoga oder Gymnastik. Vor allem aber haben sie einen Ort, an dem sie willkommen sind, an dem sie sich wohl fühlen. „Für viele ist das hier wie ein zweites Zuhause“, weiß auch Adrienne Pickert, die selbst seit vielen Jahren Mitglied und verantwortlich für die Organisation der vielen Interessenkreise ist.

Es sind nicht nur die einsamen Menschen, die kommen, wie man an Adrienne Pickert sieht. Die erzählt schmunzelnd von fünf Söhnen und sieben Schwiegertöchtern, mit denen sie in regem Kontakt steht. Es ist vielmehr das Gefühl, etwas tun zu können, gebraucht zu werden, mit dem Alter nicht unnütz zu werden. „Es gibt so viele, die morgens nur aufstehen, weil sie wissen, dass sie hier Dienst haben“, erzählt Pickert. „Die kommen, jammern ein bißchen, wie schwer ihnen das Aufstehen gefallen ist, dass sie Kopfschmerzen haben, aber nach zwei Stunden hier sind sie alle gesund.“

Es ist das Konzept, das das Humboldtschlösschen so deutlich abhebt von anderen Alteneinrichtungen. Wer alt wird, wird vielleicht langsamer, vielleicht vergesslicher, vielleicht umständlicher. Oft machen schon die kleinen Dinge mutlos: Wenn man auf Ämtern stundenlang warten muss, abgefertigt und nicht ernst genommen wird. Aber so lange jemand gesund ist, kann er sein Leben eigenverantwortlich führen, wenn er will. Das fördert und fordert das Sozialwerk, denn Vertrauen in die eigene Kraft und Leistungsfähigkeit macht stark. „Natürlich braucht man manchmal Fingerspitzengefühl, darf die Menschen nicht überfordern“, warnt Adrienne Pickert vor der Gefahr, sich selbst zu überschätzen. Klar sei auch, dass man keine medizinischen Dienste oder Pflegedienste übernehmen könne. Dafür gebe es Fachkräfte. Aber es gibt eben genügend anderes zu tun.

Im Saal bei der Weihnachtsfeier kommt Käte Tresenreuter trotz des laufenden Programms nicht zur Ruhe. Zwischen Küchentrakt und Stuhlreihen wandert sie hin und her. Ein dezenter Wink an die Küchenhelfer, hier fehlt ein Stuhl für später gekommene Gäste, dort ein Gedeck. Tresenreuter nennt ihr Werk richtungsweisend für die Zukunft der Altenarbeit, Selbsthilfe und Selbstbestimmung als Grundpfeiler der Arbeit: „Es geht nur so, nicht anders“, ist sie überzeugt.

Finanziert wird das Sozialwerk allein durch die 1.600 Mitglieder, durch Spenden oder durch das gelegentliche Vermieten der altengerechten Kegelbahn an die Polizei oder andere Vereine. Und durch regelmäßige Betreuung und Besuche in fast fünfzig Berliner Altersheimen. Ohne die ehrenamtliche Arbeit könnte das gesamte Projekt also nicht funktionieren. Und die braucht viel Zeit. Die ist es Adrienne Pickert aber wert. „Ach wissen Sie, so in der Kirche zu sitzen und zu häkeln, das würde mir einfach nicht reichen“, sagt die 82-Jährige verschmitzt lächelnd. „Aber wenn ich älter bin, dann lese ich vielleicht auch wieder mehr!“

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