: Konflikt statt Konsens!
Heute wird das Atomgesetz verabschiedet. Es wird scheitern. Der Ausstieg aus der Kernenergie gelingt nur gegen die Industrie. Das sollten die Grünen endlich einsehen
Wenn der Bundestag heute das novellierte Atomgesetz beschließt, wird der grüne Umweltminister das als seinen größten Erfolg verbuchen. Das Ende der Atomwirtschaft sei in Deutschland eingeleitet, die 19 betriebenen Reaktoren werden Zug um Zug abgeschaltet.
Die Antiatombewegung allerdings wird zu Recht darauf hinweisen, dass Rot-Grün nicht den Ausstieg aus der Atomkraftnutzung beschlossen hat, sondern ihre Bestandssicherung für eine relativ lange Frist – die zudem durch eine einfache Gesetzesänderung jederzeit verlängert werden kann. Darüber hinaus hilft der neue Rechtsanspruch auf standortnahe und unbefristete Zwischenlager der Nuklearindustrie aus einem sonst unvermeidlichen Entsorgungsnotstand. Ein weiterer Einwand: Eine Verschärfung der Sicherheitstechnik wird kaum mehr möglich sein, weil der „hohe internationale Standard“ und die Fortgeltung der bisherigen „Sicherheitsphilosophie“ gesetzlich verankert worden sind.
Rot-Grün hat sogar darauf verzichtet, eine dynamische Schadensvorsorge einzuführen, die die Betreiber verpflichtet, entschädigungsfrei neu entwickelte Sicherheitstechnik einzubauen. Was für jede Chemiefabrik angeordnet werden kann, gilt nicht für die viel riskanteren Atomkraftwerke. Die katastrophale Verwundbarkeit dieser Anlagen, die nach dem 11. September öffentlich bewusst wurde, wird somit nicht zu Stilllegungen führen. Die Betreiber könnten erfolgreich klagen und hohe Entschädigungen für entgangene Gewinne durchsetzen.
Doch nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Trotz novelliertem Atomgesetz sollte die Anti-AKW-Bewegung nicht aufgeben. Voraussetzung allerdings: Die Grünen müssen die strategische Fehlentscheidung korrigieren, die im Koalitionsvertrag mit der SPD angelegt war. Damals ging man auf Schröders Verlangen ein, ein Ende der Kernkraftnutzung im Konsens mit der Wirtschaft zu beschließen. Entsprechend verhandelte die Bundesregierung nur mit den vier großen Stromkonzernen Eon, RWE, EnBW und HEW. Sie beging zudem den kapitalen Fehler, mit der ausgehandelten Vereinbarung nicht zugleich einen Entwurf zur Novellierung des Atomgesetzes vorzulegen. Dadurch wurde dieses Gesetz ein Jahr lang verschleppt, bis heute; außerdem nahmen die Atomkonzerne auf die Novelle bis ins kleinste Detail Einfluss. Das war demokratiepolitisch höchst fragwürdig – zumal andere gesellschaftliche Gruppen völlig ausgeschlossen blieben. Die Umweltverbände wurden erst nachträglich in einem entwürdigenden Scheinverfahren angehört. Peter Strucks bekanntes Diktum „Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingeht“ wurde ausgerechnet am gesellschaftspolitischen Streitfall Atomkraft widerlegt.
Diese undemokratische Konsensstrategie muss die grüne Spitze künftig korrigieren. Es war und ist der Skandal der Atomindustrie, dass sie Menschen und ganze Länder zu Geiseln möglicher Katastrophen macht. Eben deshalb hatte sich die Antiatombewegung der 70er- und 80er-Jahre als Fundamentalopposition entwickelt. Fundamentalopposition ist vielleicht nicht mehr zeitgemäß, wer aber heute Atompolitik im Einklang mit den Profiteuren dieser Technologie betreibt, geht mit seinem Anpassungswillen entschieden zu weit.
Setzen die Grünen hingegen weiter auf Konsens, könnte sie ihre Brücken in die Antiatombewegung bleibend zerstören. Dies wäre strategisch fatal, denn genau auf diese Bewegung sind die Grünen angewiesen, wenn sie den Atomausstieg langfristig durchsetzbar machen wollen. Denn, wie gesagt: Das Atomgesetz kann jederzeit mit einfacher Mehrheit geändert werden. Um solche Aufweichungen in Zukunft zu verhindern, ist das parlamentarische Gewicht der Bündnisgrünen viel zu schwach. Eine starke Antiatombewegung bleibt unersetzlich. Doch ist nicht zu erwarten, dass sich die Bewegung für den Erhalt eines Atomkonsens engagiert, den sie bisher als unzureichend bekämpft hat.
Die Grünen müssen daher künftig erkennbar auf den Konflikt mit den Energieunternehmen setzen. Und in der Tat hat der Umweltminister seit dem 11. September gute Gründe, sich fachkompetent gegen die Atomwirtschaft zu wenden. Er kann und sollte endlich den Startschuss für die Debatte geben, ob die Gesellschaft bereit ist, das Restrisiko von Selbstmordattentaten zu tragen, die in Atomanlagen verheerende Auswirkungen haben würden.
Am 27. September erklärte Jürgen Trittin im Bundestag: „Nach dem 11. 9. wird nie wieder jemand den Absturz auf ein Atomkraftwerk als Restrisiko bezeichnen dürfen. Und dass dieses Restrisiko als – noch so ein Wort aus der Vorzeit – vernachlässigbar hinzunehmen sei, ist heute unverantwortlich.“ Wer so spricht, muss Konsequenzen ziehen! Die „Reaktorsicherheitskommission“ hat verschlüsselt zugegeben, dass Atomanlagen nicht zu schützen sind. Der Umweltminister kann die Chance nutzen und die Debatte um eine deutliche Beschleunigung des Atomausstiegs neu eröffnen.
Eine Diskussion zum Restrisiko würde eine Neubewertung der geplanten 12 Zwischenlager an AKW-Standorten erzwingen. Hier werden unbefristet neue Atomanlagen mit hochbrisanter Fracht eingerichtet. Sie sind nicht gegen gezielte Flugzeugabstürze oder direkte Angriffe mit Panzerraketen ausgelegt. Völlig zu Recht wehrt sich die Bevölkerung gegen diese Zumutung. Auch hier ist ein verantwortlich handelnder Umweltminister gefragt: Die bisher oberirdisch geplanten Hallen müssen als unterirdische und verbunkerte Atomlager errichtet werden.
Ohne eine lebendige antinukleare Bewegung kann es keine Konfliktstrategie geben. Über 100 Castor-Transporte in den kommenden Jahren bieten die große Chance, den politischen wie finanziellen Preis dieser Todestechnologie hochzutreiben. Der Widerstand wird aber als ewige Wiederkehr des Gleichen versanden, wenn er sich nicht zumindest europaweit vernetzt. Im Zeitalter von Währungsunion und liberalisiertem Strommarkt kann sinnvolle Antiatompolitik nicht mehr national beschränkt sein. Widerstandslager gegen Castor-Transporte nicht nur im Wendland, sondern vor den radioaktiven Giftfabriken Sellafield und La Hague sind ein guter Anfang. Europaweite Demonstrationen und Zusammenkünfte in Cherbourg (Normandie), Liverpool (Irische See) und Straßburg könnten folgen.
Vom nationalen Atomkonsens waren die KritikerInnen ausgeschlossen. Mit bleibendem Widerstand gegen Atomtransporte und Zwischenlager, vor allem aber einem europaweiten antinuklearen Netzwerk und einer länderübergreifenden Debatte zum atomaren Restrisiko können sie den Konflikt neu beleben. HARTWIG BERGER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen