piwik no script img

Mein Tag als Führungskraft

Erziehung heute ist keine Katastrophe, sondern ein Mix aus Elementen der antiautoritären Erziehung, der Verhaltenspsychologie, alter Disziplinierungsmethoden und neuer Tricks. Ein Tagesprotokoll

von BARBARA DRIBBUSCH

Eltern sollen ihre Kinder mehr erziehen, fordern derzeit die halbe Republik und die Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf. Viel zu viele Eltern gingen viel zu lasch mit ihrem Nachwuchs um: zu viel Fernsehen, zu viele Süßigkeiten, zu wenig elterliche Ansprache, zu wenig Bewegung, zu spät ins Bett. Längst sei der Notstand erreicht, die Erziehungskatastrophe.

Müssen Eltern jetzt also strenger werden? Die Antwort kann nur lauten: Aber warum denn? Es geht nicht darum, zu alten Erziehungsmethoden zurückzukehren. Aber man kann das Wirksamste aus drei Jahrzehnten Pädagogikdebatte nutzen. Hinzu kommen neuere Verfahren aus der Psychotherapie, alte Methoden vom Militär, und wer will, kann selbst neue Tricks erfinden. Belohnen, verhandeln, erpressen, befehlen, herumtricksen – Eltern sind Führungskräfte, die ihren Nachwuchs möglichst nervenschonend und effektiv managen müssen.

Es fängt morgens um 7 Uhr an. Das frühe Aufstehen ist schrecklich für Kinder, zumal sie am Vorabend oft zu spät ins Bett kommen, weil das Zubettgehen eben auch eine schwierige Sache ist. Am Morgen ist zuerst die Technik der „kaputten Schallplatte“ angesagt, die von der Psychologin Annette Kast-Zahn in den Neunzigerjahren beschrieben wurde. Die Technik ist einfach: Ich wiederhole mehrmals das, was ich möchte, ohne zu diskutieren oder zu lamentieren. So ist es am einfachsten, ein sieben- und ein zehnjähriges Kind dazu zu bringen, das warme Bett zu verlassen, sich anzuziehen, die Haare zu kämmen, das Müsli zu essen, die Zähne zu putzen, in die Jacke zu schlüpfen und das Haus zu verlassen, um pünktlich um 8.20 Uhr in der Schule zu sein.

Man beginnt mit der „Technik der kaputten Schallplatte“ gleich nach dem Aufstehen und sagt dann sinngemäß etwa zwanzigmal das Gleiche, in immer leicht veränderten Sätzen: „Aufstehen, Mäuse!“ oder „Zieht euch an! In einer halben Stunde müsst ihr in der Schule sein!“ Wer will, kann noch etwas „paradoxe Intervention“ dazumischen, eine Technik aus der Verhaltenstherapie. Dabei sagt man das Gegenteil von dem, was man möchte, um das zu erreichen, was man will. Also etwa so: „Nur noch zwanzig Minuten bis acht. Okay, ihr wollt unbedingt zu spät kommen. Na, dann trödelt noch ein bisschen mehr!“

Selbstverständlich kann man auch auf die uralte Methode der Drohung setzen. Als mein Sohn noch in den Kindergarten ging, endete der Morgen oft mit der handfesten Warnung: „Wenn du dich nicht anziehst, fahre ich dich im Schlafanzug in die Kita.“ Meine Freundin Susanne hat einmal Ernst gemacht und ihren Sohn im Schlafanzug in den Kinderladen gebracht. Er verarbeitete das Erlebnis kreativ und verkleidete sich beim nächsten Fasching als Schlafmütze.

Der nächste Konflikt ist ein Klassiker. Die zehnjährige Tochter hat sich nicht warm genug angezogen. Sie will im bauchfreien T-Shirt und mit Jeansjacke bekleidet bei nur acht Grad plus zur Schule gehen. Da hilft nur das Verbot und der klassische Befehl, viele hundert Jahre alt, auch militärisch erprobt: „Sofort ein langes T-Shirt und die Winterjacke anziehen! Keine Widerrede!“

Zum Mittagessen kommt meine Tochter nach Hause. Wie war es in der Schule? Die Tochter erzählt: Also, Anna, ihre Freundin, habe wieder richtig rumgezickt und dann Frau S., heute war sie so streng . . . Ich bediene mich der „Methode des zweistufigen Hinhörens“, die ich mir selbst ausgedacht habe. Diese Methode geht so: In der ersten Stufe sage ich nur „hm“ oder „ah so“. An manchen Tagen aber erklimme ich die höhere Stufe des „aktiven Zuhörens“, entwickelt in den Siebzigerjahren von dem US-Erziehungswissenschaftler Thomas Gordon. Bestätigen, nachhaken, eben „aktiv“ beteiligt sein. Ich sage also: „Ihr habt also mal wieder Stress in der Freundinnenclique. Aber hast du nicht neulich erklärt, du findest Anna auch doof? Wer hat denn da angefangen?“ Oft höre ich nicht „aktiv“ zu. Die Tochter merkt den Unterschied sofort und ermahnt mich dann ihrerseits im knallharten Imperativ, der alten Methode: „Mama, nie hörst du zu. Sag nicht einfach ‚hm‘!“

Am Nachmittag muss man bei der Auswahl der Erziehungsmodelle besonders flexiblel werden. Wie die meisten Eltern haben auch wir eine Hitliste, welches Verhalten der Kinder wir uns wünschen und welches nicht. Ganz oben steht viel Bewegung an frischer Luft, viel lesen, möglichst wenig fernsehen, wenig am Computer spielen und keine Süßigkeiten essen. Die Wunschliste der Kinder sieht – vom Lesen vielleicht einmal abgesehen – aber genau umgekehrt aus. Ziemlich weit oben stehen fernsehen, am Computer spielen, Süßigkeiten essen. Draußen zu spielen ist nicht selbstverständlich.

Meiner Tochter beispielsweise habe ich Reitstunden ermöglicht, als sie sechs Jahre alt war. Kontakt zum Tier, zur Natur, Bewegung in frischer Luft – das alles sollte das Reiten bringen. Doch bald hatte sie keine Lust mehr, auf einem schmuddeligen, unwilligen Pony herumzuzockeln, und weigerte sich. Und was habe ich eines Tages gehört, vom Computertisch? „Galoppedi, galoppedi, galoppedi“, erklang es aus dem PC. „Barbie auf dem Reiterhof“ hieß die CD-ROM, die sich meine Tochter von der Freundin ausgeliehen hatte. Begeistert drückten sie die Maus. Reiten interaktiv. Und das ganz ohne lästigen Pferd- und Außenluftkontakt.

Wenn es um die so genannte frische Luft geht, ist also eine Methode angesagt, die vordergründig wie ein Konsensmodell wirkt und deshalb allgemein als „Verhandeln“ bezeichnet wird. In Wirklichkeit ist es aber kein Verhandeln, sondern autoritäres Elternverhalten. Es geht um schlichte „Erpressung“. Die besten Druckmittel dabei: Fernsehen, Computerspiele, Schokolade. Wenn mein Sohn ein neues Computerspiel ausprobieren will, heißt es also: „Erst geht ihr zwei Stunden raus, dann dürft ihr eine halbe Stunde am Computer spielen.“ – „Nee, nur eine Stunde draußen spielen, heute ist es so kalt.“ – „Okay, dann anderthalb Stunden, aber haltet euch dran.“ Der Sohn verschwindet samt Freund im Garten.

An manchen Tagen verzichtet man auf die „Erpressungen“. Dann kann es passieren, dass die Kinder tatsächlich zwei Stunden nur vor dem Computer hocken und schon fünf Schokokekse gefuttert haben. Die Eltern fühlen sich dann zwar unwohl, sind aber immerhin dem antiautoritären Erziehungsprinzip gefolgt. Denn wie schrieb der Summerhill-Gründer A. S. Neill Ende der Sechzigerjahre? „Die erste Regel für Eltern sollte sein: Ich werde mein Kind nicht nach meinem Ebenbild formen. Ich bin nicht gut genug, nicht weise genug, um meinem Kind zu sagen, wie es leben soll.“ Nur sind meine Kinder leider auch nicht besonders weise. Und ich bin heute die Chefin hier.

Das Abendessen schließlich ist immer ein Höhe- beziehungsweise ein Tiefpunkt des Elternalltags. Sohn und Tochter sitzen samt Freund am Tisch. „Hihi“, kichert der Sohn und flüstert seinem Freund hörbar irgendwas von „Pimmel“ oder „Muschi“ ins Ohr. Also „Ignorieren“ anwenden, eine höchst nervenschonende und manchmal unumgängliche Methode. Die Jungs beginnen daraufhin, Käsestücke durch die Gegend zu werfen. Jetzt muss ich klare Ich-Botschaften aussenden, wie sie dutzende von Erziehungsberatern empfehlen. Auch zerstrittenen Paaren wird immer geraten, sich per „Ich-Botschaften“ zu verständigen, anstatt sich gegenseitig mit Vorwürfen zu überschütten.

Also sage ich nicht etwa: „Jungs, könnt ihr nicht einmal am Tag ordentlich essen!“, sondern: „Ich finde es widerlich, wenn ihr mit Käse herumschmeißt, ich will hier essen, ohne mich zu ekeln.“ Wenn die Jungs nicht reagieren, lande ich am Ende aber doch bei der üblichen Du-Botschaft, kombiniert mit Erpressung: „Verdammt noch mal, aufhören! Sonst kommt Daniel die ganze nächste Woche nicht mehr zu Besuch!“

Um die ständigen Erpressungen zu vermeiden, haben Bekannte von uns hochkomplizierte Belohnungssysteme ausprobiert. Dabei werden für jedes Wohlverhalten bei den Hausaufgaben, beim Zimmeraufräumen und am Esstisch Punkte gegeben oder wieder abgezogen. Stimmt die Bilanz am Ende der Woche, winkt eine Belohnung, etwa in Form eines Besuchs im Kino oder im Spaßbad. Diese Punktesysteme werden von verschiedenen Pädagogen empfohlen. Freundinnen mit so genannten schwierigen Kindern haben damit zwar kurzfristig gute Erfahrungen gemacht – aber nach einigen Wochen war doch wieder alles beim Alten.

Manchmal muss man mit dem Nachwuchs grundsätzlich reden. Dann kann man es mit der „Familienkonferenz“ versuchen, der von Gordon propagierten Konsensmethode aus den Siebzigerjahren. Morgen beispielsweise müssen wir in Ruhe über „Gute“, genauer über „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ sprechen. Meine Kinder wollen die RTL-Serie jeden Tag sehen, ich und mein Mann sind dagegen. Meine Tochter wird damit argumentieren, dass alle in der Schule „Gute“ gucken und sich die Kinder am nächsten Tag darüber unterhalten. „Wer die neue Folge nicht kennt, der kann einfach nicht mitreden.“ Das wollen wir natürlich nicht. Und übersehen dabei leicht, dass sich so die Kinder längst ihrerseits der alten Erpressungsmethode bedienen. Druckmittel: das schlechte Gewissen und die Unsicherheit der Eltern.

„Gute“ hat zugegebenermaßen auch für die Eltern einen Vorteil: Die Kinder müssen sich vorher bettfein machen, sonst bleibt der Fernseher aus. Das Gegengeschäft vulgo die Erpressung funktioniert, und so ist das Zubettgehen einigermaßen nervenschonend. Einerseits. Andererseits kommen die Kinder so immer ein bisschen zu spät in die Federn. Dann muss ich am nächsten Morgen eben wieder die „kaputte Schallplatte“ auflegen, mit ein bisschen „paradoxer Intervention“ verstärkt. Ich bin ja nur unfreiwillige Führungskraft. Und da nutzt man alle Tricks.

BARBARA DRIBBUSCH, 45, ist Redakteurin für Soziales und Gesellschaftspolitik im Inlandsressort der taz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen