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Ein Löwe hat zugebissen

Die Militärmacht USA spielt den Dompteur. Doch wer ist hier eigentlich die Bestie? Der Groll gegen die westliche Interpretation der Globalisierung wächst, auch in Afrikavon MADJIGUÈNE CISSÉ

Am 11. September schaute die ganze Welt, dank der wohlstandsbürgerlichen Mittel der Kommunikation, bestürzt auf den Zusammenbruch der Zwillingstürme des WTC und die teilweise Zerstörung des Pentagon. Einige Wochen später entfesselte Amerika, mit tatkräftiger militärischer Unterstützung durch die Briten und Zustimmung der übrigen Länder des Westens, die militärische Operation „infinite freedom“ gegen die Taliban und Bin Laden.

Noch im kleinsten afrikanischen Dorf wurden diese Ereignisse diskutiert, doch keinesfalls sorglos: Äußerungen wie etwa die des italienischen Präsidenten Berlusconi über die „neuen Kreuzzüge“, den „Krieg des Guten gegen das Böse“ des amerikanischen Präsidenten George Bush oder den „Angriff gegen die zivilisierte Welt“, den der amerikanische Außenminister deklarierte, haben in Afrika mehrheitlich die Gemüter sehr verletzt, statt sie zu beruhigen.

Eine Frage brennt allen auf dem Herzen: Wer ist heute zivilisiert und wer nicht? Hatten wir etwa wirklich seit dem Fall der Kolonialmächte darauf vertraut, die Zeiten, in denen man sich auf den Unterschied zwischen zivilisiert und nichtzivilisiert berufen kann, seien endlich vorbei?

Die sprachlichen „Ausrutscher“ der großen Herrscher dieser Welt verraten eine Einstellung, die scheinbar in den meisten westlichen Staaten legitim ist und die unsere Vorstellungen Lügen straft. Wir müssen uns also selbst fragen, wo das Gute liegt und wo das Böse: Ist die Globalisierung gut für uns Afrikaner? Sind die Pläne der Weltbank und des IWF, die uns eine strukturelle Anpassung vorschreiben, gutes oder böses Saatgut?

Nach dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten hat sich die amerikanische Hegemonie als neue ökonomische Weltordnung immer weiter ausgebreitet. Ihre wichtigsten Ausdrucksformen erfahren wir in der Globalisierung der Wirtschaft, der Ökonomie, der Information - und in einer schreienden Ungerechtigkeit. Faktisch bedeutet Globalisierung eine Spaltung zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich innerhalb desselben Landes, zwischen Mann und Frau, zwischen Jung und Alt.

Obwohl die reichen Länder nicht müde werden, uns von ihren Initiativen für unseren Kontinent Afrika zu erzählen, können wir selbst keine Veränderungen sehen.

Aber wie vielen unterernährten Kindern könnte mit dem Geld für eine Tomahawk-Rakete geholfen werden, wie viele könnten gegen die Masern geimpft werden? Der große Widerspruch der modernen Welt äußert sich in der Unfähigkeit der reichen Länder, genug Geld aufzutreiben, um ihre Kolonialschuld zu begleichen oder die Armut zu bekämpfen, aber sehr wohl immer wieder Geld zu finden für die Finanzierung von Krieg und Repression. In Afrika ist der Tisch der Globalisierung noch nicht gedeckt. Die Welt, in der wir leben, ist hässlich, und niemand kann uns einreden, sie sei schön.

Aber auch die Armut, die in den Städten der größten Weltmacht wütet und die vor allem junge Menschen trifft, denen als Ventil nur Drogen und Alkohol bleiben - sieht so wirklich das Gute aus? Und was soll gut daran sein, dass in manchen westlichen Städten Mädchen hinter Glasscheiben ausgestellt werden wie eine Ware? Wenn wir heute für die Befreiung der afghanischen Frau kämpfen sollen, für ihr Recht auf Arbeit, dann tun wir dies wohl kaum, um morgen junge Afghaninnen in pornografischen Vitrinen in den Straßen Kabuls wiederzufinden.

Die Analyse der hier notierten Reaktionen auf die Ereignisse des 11. September könnte den Anschein erwecken, dass die Völker Afrikas neben dem Bedauern der unschuldigen Opfern wenig Verständnis aufbringen für diesen „Krieg gegen den Terrorismus“. Und in der Tat, die Stimmen der Menschen auf unserem Kontinent sprechen von anderen Dingen als jene des öffentlichen Diskurses. Denn seit fünfzig Jahren sind wir nun Zeugen so vieler Kriege gegen „unzivilisierte“ Länder, sei es in Vietnam, in Lateinamerika, im Irak, im Kosovo oder heute in Afghanistan. Wir fragen: Was haben diese Kriege gebracht? Das irakische Volk leidet weiterhin unter den Bombardements und den verhängten Embargos, während es sich Saddam Hussein gut gehen lässt in den Palästen Bagdads. Wo waren die Schweigeminuten für die toten Zivilisten im Irak, in Jugoslawien oder in Afghanistan?

Der amerikanische Präsident verkündet der Welt einen “unendlichen Krieg“, und wir nehmen seine Worte sehr ernst. Der Riese Amerika, der regelmäßig internationale Konventionen mit Füßen tritt, nimmt sich die Arroganz heraus, zu tun und zu lassen, was er will. Er vergiftet nach Herzenslust die Atmosphäre und geht dann daran, andere Schuldige zu sanktionieren. Die Zwerge rätseln: Wer wird als nächstes an der Reihe sein, nach Afghanistan?

Der Boden für Taten, die als extremistisch bezeichnet werden, ist bereitet, sein Dünger ist ein Gefühl der Ohnmacht, gepaart mit Frustration und Groll. Jüngstes Beispiel: In Frankreich legten Arbeiterinnen von Moulinex Feuer an eines der Fabrikgebäude und verweigerten den Feuerwehrmännern den Zugang zum Dach, indem sie dort Explosionskörper und Chemikalien deponierten. Sind auch sie Terroristinnen?

Globalisierung ist keine Einbahnstraße, alle Protagonisten müssen etwas davon haben. Die reichen Länder müssen gewahr werden, daß ihre jetzige Rolle als Dompteure der Welt, die dank militärischer und medialer Macht in der Lage sind, die Löwen zu manipulieren und gegeneinander auszuspielen, enden wird. Hat nicht bereits ein Löwe zugebissen?

Was unsere Welt schön macht, ist die Vielfalt ihrer Völker, ihrer Sitten, ihrer Landschaften, ihrer Farben. Dem anderen zuhören, seine Vorschläge ernst nehmen - das bedeutet, die Schulden der armen Länder tatsächlich zu annullieren, die sozialen Ungerechtigkeiten tatsächlich wegzuwischen, dem Wohlsein aller tatsächlich entgegenzuarbeiten; und das ist der einzige Weg, tatsächlich „dauerhafte Freiheit“ zu etablieren.

Übersetzung: Navina Bolla-Bong

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