american pie
: NBA-Schlusslicht Chicago sucht einen neuen Trainer

Pretty Boy Floyd in der Hölle

Der 19. Januar, so viel steht fest, wird ein harter Tag für die Fans der Chicago Bulls. Rund 22.000 von ihnen werden dann im United Center der Stadt am Michigan-See sitzen und jenen Mann bestaunen, dessen Denkmal direkt vor den Toren der Arena steht und dessen Trikot mit der Nummer 23 hoch droben unter dem Dach hängt. Nein, er braucht es wirklich nicht mehr, denn Michael Jordan trägt die 23 jetzt bei den Washington Wizards und wenn alles normal läuft, wird er seinem alten Klub und dessen Anhängern drastisch vor Augen führen, wie man Basketballspiele gewinnt.

Während der reaktivierte 38-Jährige die Wizards binnen weniger Wochen von ausgemachten Losern in schlagkräftige Play-off-Aspiranten verwandelt hat, sind Siege bei den Chicago Bulls extrem rar geworden. Vier von 25 Matches wurden diese Saison erst gewonnen, die noch vor wenigen Jahren erfolgreichste und berühmteste Basketball-Mannschaft der Welt ist nun das absolute Schlusslicht der NBA. Kronzeuge des Absturzes war vom ersten Tag an Coach Tim Floyd (47), am Heiligabend warf er zwei Tage nach einer 74:95-Heimschlappe gegen die Minnesota Timberwolves das Handtuch. „Ich habe mein Bestes versucht“, sagte er resigniert, „manchmal reicht das halt nicht.“

Von vornherein befand sich Tim Floyd auf einer verlorenen Mission. Als Meistertrainer Phil Jackson 1998 nach dem sechsten Titel der Bulls keinen neuen Vertrag bekam, fiel das Wunderteam auseinander, und auch die Hoffnung des neuen Mannes, dass wenigstens Michael Jordan weiter machen würde, erfüllte sich nicht. Der Superstar war nicht bereit, sich mit einem relativ jungen Coach an einem Neuaufbau zu beteiligen, erklärte, zusätzlich genervt durch den Arbeitskampf, der die halbe Saison kostete, seinen Rücktritt und wurde lieber der Boss bei den Wizards in Washington. Statt Spieler wie Jordan, Pippen, Kukoc oder Rodman hatte Floyd plötzlich Bryce Drew, Fred Hoiberg oder Brad Miller in seiner Startformation, während Stars wie Grant Hill, Eddie Jones oder Tracy McGrady Angebote entsetzt ablehnten. Kontinuität gab es nie, jedes Jahr begann der Neuaufbau von vorn. Von 40 Spielern, die in den letzten drei Spielzeiten das Trikot der Bulls trugen, sind 26 nicht einmal mehr in der Liga. Zuletzt holte Manager Jerry Krause mit Eddy Curry und Tyson Chandler zwei talentierte High-School-Kids, die bislang aber wenig spielten. Für Curry opferten die Bulls Draft Pick Nummer vier, für Chandler ihren Forward Elton Brand, der seither bei den Los Angeles Clippers mit 19,7 Punkten und 11 Rebounds im Schnitt exzellente Leistungen bringt.

Gekommen war auch Veteran Charles Oakley, der vor vielen Jahren schon mal in Chicago spielte, in dieser Saison aber mehr durch Nörgeleien als Führungsstärke auffiel. „Die sind hier doch ans Verlieren gewöhnt“, hatte Oakley nach einer herben 74:127-Niederlage gegen Minnesota gerügt, „das ist eine andere Art von Spielern und Trainer, für die ich wahrscheinlich zu alt bin“. Floyd konterte: „Normalerweise reißen Leute die Klappe auf, die große Nummern zustande bringen. Die habe ich von ihm noch nicht gesehen.“ Der 38-jährige Oakley, für den bisher 3,3 Punkte und 7,3 Rebounds pro Spiel zu Buche stehen, wurde mit einer Geldstrafe von 50.000 Dollar belegt.

Tim Floyd, der mit 180 Niederlagen in 226 Partien die niedrigste Gewinnquote eines Trainers in der NBA-Geschichte erreichte, fand zum Abschied eine einfache Formel für den bisherigen Saisonverlauf: „Jeder Tag war die Hölle.“ Unter den Leuten, denen er für gute Zusammenarbeit dankte, war zwar Klubbesitzer Jerry Reinsdorf, nicht aber Jerry Krause. Der Manager gab bekannt, dass Assistent Bill Berry zunächst die Mannschaft betreut, ansonsten weigerte er sich, Fragen zu beantworten.

Die größte dürfte sein, welcher Trainer dafür in Frage kommt, den Neuaufbau fortzusetzen, für den Floyd noch drei bis vier Jahre veranschlagt. Renommierte Coaches wie Mike Dunleavy oder Jeff van Gundy werden vermutlich die Finger von einer solch riskanten und unerfreulichen Sache lassen. Egal, wer der neue Bulls-Trainer wird, auf Ratschläge seines Vorgängers muss er verzichten. „Mein Gott, schaut euch meine Bilanz an“, sagte Tim Floyd nur, „wie könnte ich jemandem raten?“ MATTI LIESKE