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Der kleine Neffe muss leiden

Die deutschen Eisschnellläuferinnen Anni Friesinger und Claudia Pechstein dominieren zwar die Europameisterschaft in Erfurt, ihre Sportart aber führt hier zu Lande dennoch ein Schattendasein

aus Erfurt MARKUS VÖLKER

Der große Onkel war zu Gast. Er kleidete sich orangefarben, trug eine lustige Perücke und hatte klobige Holzschuhe an. Seine Kappelle „Kleintje Pils“ machte Stimmung, die nur am Abend in der Altstadt noch besser wurde. Die Niederlande besuchte die Eisschnelllauf-EM in der neuen Erfurter Eishalle. Eine Abordnung von etwa 2.000 Fans machte deutlich, wo der Eislauf beheimatet ist. Viel mehr Eintrittskarten mochten die Holländer kaufen, aber das ging nicht, weil sich auch ein paar Einheimische die Titelkämpfe anschauen wollten. Dafür übertrug das zweite holländische Fernsehen jede Kufenbewegung live, ein Muss im Nachbarland.

Doch rechte Zufriedenheit wollte bei den Kommentatoren nicht aufkommen. Die Stars Romme, Ritsma und Postma, die die Medaillen unter sich ausgemacht hätten, waren nicht am Start. Und die Damen des königlich niederländischen Verbandes laufen seit geraumer Zeit den deutschen Frauen hinterher. Und weil sich die Leistungen am Wochenende lediglich in Bahnrekorden erschöpften, rutschte einem Fernsehmoderator der Satz heraus: „Ja, was hat uns denn die EM zu bieten – na wenigstens ein Interview mit Anni Friesinger.“ Die Läuferin aus Inzell gewann die Europameisterschaft im Mehrkampf souverän. Sie siegte auf den ersten drei Strecken (500, 1.500, 3.000 Meter), über 5 Kilometer belegte sie gestern Rang 2 hinter Claudia Pechstein (Berlin), die sich über Silber freuen durfte.

Bei den Männern stürtzte immerhin der Holländer Jochem Uytdehaage mit seinem Titelgewinn die Apfelsinen-schimmernde Menge in Begeisterung. Sie lieferte einen lebendigen Kontrast zur beklemmenden Grabesstille, die vor Wochenfrist noch bei den deutschen Meisterschaften an gleicher Stelle geherrscht und das Dilemma des hiesigen Eisschnelllaufs aufgezeigt hatte: Einerseits werden so viele Medaillen gesammelt, dass nicht nur IOC-Vizepräsident Thomas Bach daran glaubt, in Salt Lake City „den erfolgreichsten Mannschaftsteil“ bewundern zu können. Auf der anderen Seite jedoch fällt Eisschnelllauf auf unfruchtbaren Boden.

„In Deutschland muss man den Leuten den Sport erst erklären“, sagt etwa Christian Breuer. „In Holland ist er ein hoch geschätztes Kulturgut.“ Der EM-Zehnte fährt fort: „Wir befinden uns in der Vermarktung auf einer abgeschlagenen Position.“ Die Situation ließe sich, wenn man es positiv betrachten wolle, so Breuer, mit dem Biathlon vergleichen: Vor wenigen Jahren nahm diese Wintersportart Anlauf zu einem gewagten Sprung, passte sich den Wünschen der Zuschauer und des Fernsehens an – und ist im Quotenhoch gelandet. Während in Holland vier Privatteams mit bis zu 2 Millionen Euro im Jahr planen, hat der Verband hier zu Lande große Probleme, überhaupt einen Privatsponsor zu finden, der die vergleichsweise läppische Summe von 250.000 Euro berappt. So mancher Athlet ist darüber verärgert, dass der Verband kein Geld auftreiben kann. Immerhin: ARD und ZDF präsentieren sich verstärkt als Mentoren,die das Eisschnelllaufen an die Hand nehmen und in die Zukunft geleiten wollen. ZDF-Sportchef Wolf-Dieter Poschmann übernahm in Erfurt die Rolle des Hallensprechers, Pläne zur Steigerung der Attraktivität liegen in der Schublade. Nachgedacht wird auch über Massenstarts, deren Einführung Günter Schumacher, Sportdirektor der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft, in zwei Jahren für möglich hält. Doch diese Neuerung ist dem Fernsehen gar nicht so recht. Vom ZDF heißt es, Massenstarts brächten den Fernsehzuschauer nur in Verwirrung. Und dann sind da noch die Holländer, die eine sehr traditionelle Auffassung ihres Sports pflegen. Sie würden lieber alles beim Alten belassen. Warum auch Veränderungen zulassen, wenn es eh prächtig läuft? Der große Onkel ist zufrieden. Zum Leidwesen des kleinen Neffen.

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