stimme der kritik: Ching, Chang, Chong! Stoiber gewinnt, weil Merkel in seinen Brunnen gefallen ist
Über die öffentliche Inszenierung eines privaten Gesprächs
Merkel und Stoiber blicken sich fest in die Augen. Ching, Chang, Chong! Stoiber gewinnt, denn Angie hat, als Programmatikerin, zwar geschickt die Hand zum Papier ausgestreckt, ist dann aber doch in Stoibers Brunnen gefallen – eine Variante des Spiels, die erst kürzlich eingeführt wurde und die sich der Kenntnis der Mecklenburgerin entzog. Ende des Vier-Augen-Gesprächs. Der Kanzlerkandidat steht.
Ein solches den Fernsehkameras entrücktes Szenario wäre zwar effektiv, widerspricht aber entschieden der politischen Ethik. Denn das private Gespräch zwecks einvernehmlicher Kandidatenkür soll gerade bewirken, dass sich Geist wie Herz der Rivalen einander öffnen, dass, wie in einem erfolgreichen Beziehungsgespräch, der Unterlegene wie der Sieger seelisch gestärkt aus dem Gespräch hervorgehen.
Wer immer noch glaubt, die These „Alles Private ist politisch“ sei eine Erfindung der 68er, unterliegt einem eitlen Irrtum. Denn erstens geht es hier um den Lehrsatz Nr. 1 Helmut Kohls, und zweitens ist nicht nur dieses Kohl’sche Theorem, sondern auch sein Gegenteil richtig: Alles Politische ist privat. Hatte Kohl, damals noch Bundeskanzler, nicht „seinem Mädchen“ in einem Privatissimum mitgeteilt, er schlage in politischen Fragen stets den gleichen Weg ein, den er auch im Privatleben verfolge; und er lasse sich bei seinem Urteil über Personalien von den gleichen Maßstäben leiten wie im Kreis der Famillie?
Die Kandidatenkür der CDU ist politisch viel zu wichtig, als dass sie der öffentlichen Erörterung und Entscheidung in den dafür vorgesehenen Gremien überlassen bleiben dürfte. Wie einförmig demgegenüber die Idee des britischen Parlamentarismus, nach der der Fraktionsführer der Partei gleichzeitig Kandidat für das Amt des Premierministers ist, wie wenig subtil, wie wenig geheimnisvoll! Denn das Private ist noch stets der Sitz des Unergründlichen und Überraschenden, nach dem das Publikum ebenso lechzt wie die Medien, die getreuen Dolmetscher seiner Bedürfnisse.
Man wende nicht ein, es handle sich bei diesem Vier-Augen-Gespräch allein um eine Variante der althergebrachten Diplomatie, die kontroverse Gegenstände der geheimen Verhandlung anvertraut. Wäre es so, die Kontrahenten hätten sich längst am verschwiegenen Ort getroffen und die Sache entschieden. Tatsächlich macht gerade die öffentliche Inszenierung des privaten Gesprächs den Kern der Sache aus. Das Gespräch selbst wird ebenfalls keinen diplomatischen Regeln folgen. Kein „ ‚Bitte nach Ihnen‘ – ‚Nein, bitte nach Ihnen‘ “. Sondern es wird exakt um das Gleiche gehen, was jedes CDU-Mitglied von seinem Dache pfeift: um das Öffentlichste des Öffentlichen, die Ergebnisse der Meinungsumfragen. CHRISTIAN SEMLER
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