Raubheirat in Kirgistan

Das Gesetz aus der Sowjetzeit ändert nichts daran: Der Brauch des Frauenraubs ist in den zentralasiatischen Republiken noch immer verbreitet. Die Rekonstruktion eines wahren Falls

von BERNHARD KIRFELund MAHABDAT ZADYRBEK

Sie kamen um Mitternacht. In einem gebrauchten Mercedes, den Nurlans Vater am Vortag nach tagelanger Fahrt aus Erkelenz bei Aachen angekarrt hatte. Mit Heinsberger Kennzeichen: HS. Der Vater hatte den Wagen einem „Kirgisenmichel“ (einem ehemaligen kirgisischen Staatsbürger deutscher Sprache, der in die Bundesrepublik ausgewandert war) für zweitausend Mark abgekauft und ihn für die gleiche Summe aufgemöbelt. Nun wollte er ihn daheim auf dem Bazar von Bischkek (früher Frunse), der Hauptstadt der Republik Kirgistan, verkaufen. Möglichst für den doppelten Preis.

Nurlan hatte auf den Vater gewartet, seitdem dieser sich im Bischkeker Flughafen Manas in die halb verrostete Tupelew gesetzt und mit der Kirgistan Airline nach Frankfurt geflogen war. Wie lange würde er diesmal für den Landweg zurück brauchen: acht Tage? Manchmal wurden es Wochen, bis die Fahrer die Fahrzeuge über fünftausend Kilometer durch Deutschland, Polen, die Ukraine, Russland, am Kaspischen Meer vorbei, durch die kasachische Salzwüste gebracht hatten. So viele Grenzen! Polizisten und Zöllner, die oft keine waren, sondern Briganten. Und bei diesen alten Autos weißt du nie, ob sie es schaffen.

Nurlans Vater hatte die Tour schon fünfzigmal gemacht. Wie viele seiner Kameraden. Jedes dritte Auto in Bischkek ist ein deutscher Gebrauchtwagen. Zuerst macht man die Tour für einen eigenen Wagen, später für eine Musikanlage, dann für ein Eigenheim, schließlich lebt man von diesem Fernhandel. Nurlans Vater hatte den Rohbau fertig. Auf die Frage eines deutschen Besuchers an Nurlans Mutter: Haben Sie keine Angst um Ihren Mann, wenn er so lange und so oft von Hause weg ist, hatte sie kalt geantwortet: Es gibt Männer wie Sand am Issyk-Kul. Sie meinte den großen kirgisischen Warmwassersee.

Eigentlich hatte Nurlan, 24 Jahre alt, noch gar keine Lust gehabt zu heiraten, aber die Eltern drängten: Deine Freunde sind alle verheiratet. Los! Hol dir eine Frau! Während der Vater in Deutschland an dem Mercedes herumbosselte, hatte Nurlan sich auf „Brautschau“ begeben. In der Berufsschule in Kotschkor, hatte ihm Freund Bakyt gesagt, findest du die besten Weiber. Solche Titten! Solche Ärsche! Und sauber! Absolut sauber! Nurlan hatte sich einen Wagen leihen können und war nach Kotschkor gefahren. Hundert Kilometer. Das Fahrzeug parkte er außer Sichtweite der Schule. Als die Mädchen zur Pause auf den Schulhof strömten, ging er wie zufällig vorbei und spähte nach einer Braut.

Gleich fiel ihm eine hübsche Langhaarige mit geschmeidigen Bewegungen auf. Wie alt? Er tippte auf sechzehn Jahre. Die soll es sein! Aber wo wohnt sie? Wie bekam er das heraus? Fragen ging nicht. Zu auffällig! Er musste ihr unauffällig folgen, wenn sie nach Hause ging. Nurlan ging zum Wagen zurück. Setzte sich hinein. Zündete sich eine Zigarette an. Das Mädchen sah verdammt gut aus. Sie wird sportlich sein. Das kann Probleme bringen. Aber ich werde es schon hinkriegen. Die Kameraden werden den Kalpak (den kirgisischen Filzhut) vor mir abnehmen. Donnerwetter, Nurlan! Jetzt bist du ein Mann. So ein Weib zu besitzen ist eine große Ehre. Und sie geraubt zu haben, eine noch größere. Jetzt bist du ein echter Kirgise!

Nurlans Zigarettenschachtel war schon leer. Die Zeit wurde ihm lang. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag. Wann hört bloß diese verdammte Schule auf? Schließlich klingelte es, und kurz darauf sah er die Mädchen kommen. Auch die Langhaarige. Ist doch scheißegal, wenn sie mich sieht, dachte er. Ich fahre einfach hinter ihr her. Er ließ den Motor an und steuerte auf die Mädchen zu. Die Ausgewählte kam ihm entgegen, bog dann aber rechts ab in einen Seitenweg, der kaum zu befahren war. Durch Schlaglöcher und Pfützen folgte er ihr langsam. Der Weg führte an einen Abhang und wurde zum Pfad. Das Mädchen huschte den Abhang hinunter. Er musste aussteigen und sah, wie sie unten einen Bach überquerte und dann weit durch Wiesen ging. Plötzlich drehte sie sich um, sah ihn auf der Anhöhe spähen, drehte sich abermals und lief dann schnellfüßig zu einem kleinen wellasbestbedeckten Häuschen, in dem sie verschwand.

Oma, rief Dariko, als sie ins Haus kam, da ist ein Kerl, der verfolgt mich. Allah, steh uns bei, antwortete die Alte, mit der das Mädchen allein zusammenwohnte. Jetzt war da, was die Großmutter immer gefürchtet hatte: Ala katschu. Sie wollen meine liebe Dariko rauben, und wie soll ich sie beschützen? Kein Mann im Haus! Der Onkel – wird er helfen? Wird er die Räuber verfolgen, wenn sie Dariko auflauern und entführen? Die Tanten, werden sie etwas unternehmen? Was sollen sie tun? Inschallah, werden sie sagen. Sie ist eine Kirgisin. Vergiss nicht, dass du eine Kirgisin bist! Es ist Gottes Buiruk, Schicksal. Warum soll es ihr besser gehen als uns? Wer von uns ist nicht geraubt worden? So hat Allah die Menschen gemacht! Wie die Schafe. Die Böcke rammeln und die Schafe halten still. Still halten und Lämmer machen. Beine breit und Kinder machen. Das ist das Leben: fressen, ficken, verrecken! Allah ist groß. Da kann man nichts machen.

Und was wird aus Dariko, wenn du nicht mehr bist? So ist sie versorgt, und du brauchst dich nicht mehr um sie zu kümmern! Versorgt, versorgt, murmelte die Alte. Geprügelt wird sie, und wenn der Saukerl sie nicht mehr mag, schmeißt er sie wieder raus, mit oder ohne Kinder schmeißt er sie raus und raubt sich eine andere. Nein, von den alten Frauen ist keine Hilfe zu erwarten. Die reden sogar noch für diese verfluchten Räuber! Und zur Polizei gehen? Die Räuber anzeigen? Ha, die Polizei! Sie tut nichts ohne Geld. Die Großmutter hatte kein Geld. Ja, gäbe es die Sowjetunion noch! Hätte man noch Jugendrichter! Dann würden diese Räuber sich nicht alles erlauben.

Sie kamen um Mitternacht. Den Mercedes hatten sie auf der Anhöhe gelassen. Möglichst geräuschlos wollte Nurlan rauben, denn man konnte nie wissen, wer zu Hilfe eilen würde, begänne das Mädchen zu schreien. Sie waren zu fünft. Dariko machte es ihnen nicht leicht. Sie wand und drehte sich, schlug, trat, biss und kratzte, aber sie hatte keine Chance. Ihr Schreien hörte nur die Alte, und die konnte nicht helfen. Sie wickelten sie in Decken, schnürten sie zu, schleppten sie durch die Wiesen, die Anhöhe hinauf zum Heinsberger Mercedes – und weg waren sie.

Die Großmutter humpelte ins Dorf hinauf. Lange brauchte sie, bis sie zu Hassan kam, klopfte an seine Tür. Hassan war ihr Sohn, Darikos Onkel. Hassan, schrie sie. Ala katschty! Sie haben Dariko entführt. Mit einem Auto. Mach auf! So hilf doch! Mutter, was willst du, rief Hassan von drinnen. Ich habe kein Auto. Soll ich auf meinem Gaul hinter ihnen herreiten? Und wohin denn? Weißt du, wohin sie sind? Wer der Räuber ist? Inschallah. Da kann man nichts machen. Er kam heraus, versuchte seine Mutter zu trösten: Hätte ich eine Waffe! Wäre ich bei der Miliz! Könnte man wenigstens einen Brautpreis einfordern! Ein paar Schafe oder ein Pferd ! Oder wenigstens ein paar Dollars und Wodka. Natürlich war die Alte mit solchen Worten nicht zu trösten.

Vom Wodka besoffen, kamen Nurlan und seine Kumpane zu Hause an, zerrten Dariko aus dem Mercedes, schleppten sie ins Haus, umringt von den Nachbarn, erwartet von den Frauen, die schon den Vorhang aufgehängt hatten, vor dem die junge Frau Nachbarn und Verwandten ihre Aufwartung machen sollte. Jetzt musste Nurlan sich mit seinen Freunden zurückziehen. Die zukünftige „Schwiegermutter“ und die „Schwägerinnen“ nahmen Dariko in Empfang, wickelten sie aus den Decken, versuchten, der fast Nackten ein Nachthemd überzuziehen und ein Kopftuch aufzusetzen. Doch Dariko wehrte sich erbittert, schlug um sich, kratzte, biss wie bei der Gefangennahme. Die Frauen waren auf Widerstand gefasst. Bald mit guten Worten, bald mit Drohungen und Schlägen versuchten sie ihn zu brechen. Kaum eine wehrt sich länger als drei Stunden. Dariko war stärker als die Stärkste von ihnen, aber schwächer als alle zusammen. Wenn wir sie gar nicht packen, lassen wir sie auf Brot treten, dachten sie, und wenn auch das nichts nutzt, muss sie über die Alte steigen.

Es ist keine Sünde, auf den Koran zu treten, um das Brot vom Schrank herunterzuholen, wohl aber eine Sünde, auf Brot zu treten, um den Koran vom Schrank zu holen, sagt man in Kirgistan. Tritt das Mädchen auf Brot, bekommt es Schuldgefühle und wird schwach. Noch größer werden die Schuldgefühle, steigt es über einen alten Menschen. Der nämlich kann es verfluchen – die Angst vor Verwünschungen ist groß. Selbst nach einem Studium ist man gegen sie nicht gefeit. Die Verwünschte wird sich künftig immer schuldig fühlen, wenn etwas schief geht. Wenn etwa ein Kind stirbt, wird sie ihre Aggression nicht gegen den Entführer und seine Räuberfamilie richten, sondern gegen sich selbst.

Nach sechs Stunden Kampf schlief Dariko erschöpft ein. Die Frauen streckten sich hinter dem Vorhang aus, die Sonne ging auf, Nurlan und seine Freunde hielten sich an der Flasche fest. Den ganzen Tag über soffen, rauchten und grölten sie. Als es dunkel geworden war, versuchte Nurlan die „Ehe“ zu vollziehen, aber er war zu betrunken und bekam keinen hoch. Auch hatte Dariko neue Kraft geschöpft. Als er ihr an den Leib wollte, sprang sie auf, stürzte sich auf ihn, trat ihrem Entführer gegen den Kopf, in die Eier, dass er Sterne sah, sich vor Schmerzen wand und um Hilfe schrie. Lachend stürzten seine Kameraden herein. Wieder keine Chance für Dariko. An Armen und Beinen hielten die vier sie fest und forderten Nurlan auf: Fick sie! Fick sie! Doch der konnte nicht. Die Kameraden lachten ihn aus.

Voller Wut warf er sich auf sie und schlug sie mit Fäusten ins Gesicht, steigerte sich in seiner Erregung, bis schließlich sein lächerliches Glied steif wurde und er es in sein wehrloses Opfer stoßen konnte. Das schrie vor Schmerz. Für ihn war es kein Vergnügen. König Gunther war auf eine Brunhilde getroffen und hatte vier Siegfriede gebraucht, sie zu überwältigen. Die Kameraden würden es allen erzählen. Ein armseliger Held! Und Dariko, nun gedemütigt, entehrt und geschwächt, schwor Rache. Rache ein Leben lang. Rache auf Frauenart: Keinen Finger werde ich je rühren für dieses Schwein, das mich geraubt hat! Wie ein Brett werde ich sein, wenn er auf mir liegt!

Und noch einmal bekamen die Frauen zu tun. Eine Schwägerin kam auf Darikos Schrei hin mit einer Hand voll Werg hinter dem Vorhang hervor und tauchte ihn in das Blut, das noch nicht vom Leintuch aufgesaugt war, auf dem sich der Akt vollzogen hatte. Dann ging sie im Haus herum, es allen zu zeigen. Die anderen Frauen schnappten das Betttuch und liefen damit durch die Nachbarschaft. Wäre Dariko nicht mehr Jungfrau gewesen, hätte man sie sofort davongejagt. „Frei“ wäre sie gewesen, doch ohne jede Chance, jemals in ihrer Heimat einen Mann zu finden. Keinen Mann, keine Arbeit, kein Geld, keine Eltern, keine Chance. Und in der Fremde ? Wer kann in die Fremde gehen?

BERNHARD KIRFEL lehrt an der Heilpädagogischen Fakultät der Uni Köln und ist Leiter des Zentrums Bildung und Behindertenfürsorge Schloss Bedheim MAHABDAT ZADYRBEK, 22, wuchs im heutigen Kirgistan auf dem Land auf. Sie studierte in Hamburg und Hannover Germanistik und schloss ihr Studium im vergangenen Sommer in Bischkek ab. Von ihren zwölf ehemaligen Klassenkameradinnen wurden neun geraubt