: Die Geburtsstunde des Superbayern
„Hey Superbayern, olé, olé Superbayern, hey Superbaaayeeern!“ Dieser Triumphgesang heult mitunter durch ganz Europa. Wie konnte das geschehen? Zugleich eine Analyse dessen, was nach der Bundestagswahl 2002 auf uns zukommen kann
von GEORG M. OSWALD
Was alle ohnehin schon immer wussten, bestätigte sich nach der Bundestagswahl 1980: „Niemals kann ein Bayer Bundeskanzler werden.“ Franz Josef Strauß, Metzgerssohn aus München und selbst von sanftmütigen Menschen wie dem Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer als „unsympathischer Kriegsminister“ geziehen, war als „Der Kandidat“ in den Ring gestiegen und nach schwerem Kampf zu Boden gegangen. Doch besiegt hatte ihn nicht sein Gegner, der bereits angezählte Kanzler Helmut Schmidt, sondern – das Wahlvolk. Der Film „Der Kandidat“ von Alexander Kluge, Stefan Aust, Alexander von Eschwege und Volker Schlöndorff war ein eindrucksvolles Porträt des Herausforderers und einer der maßgeblichen Orientierungspunkte für eine Wählerschaft, die zwar die sozialliberale Koalition nicht mehr wollte, dem Regime eines gemeingefährlichen Stammesfürsten dann aber doch vorzog. Das ganze Land, selbst Bayern, war rot gesprenkelt mit „Stoppt Strauß“-Plaketten und -Ansteckern. Am Ende war er auch gestoppt. Strauß hatte verstanden. „Everybody’s darling is everybody’s Rindviech“, raunzte er. Er war so beleidigt, dass er es zwei Jahre später ablehnte, zu Helmut Kohl ins Kabinett zu kommen und bei der geistig-moralischen Wende mitzutun.
Die Art, wie in Bayern Politik gemacht wurde, war mit den Sitten und Gebräuchen von Restdeutschland damals noch nicht vereinbar. Und wirklich, die typischen CSU-Politiker, wie sie unter Strauß gediehen, wiesen übereinstimmend Merkmale auf, die von jeher auch den „typischen Bayern“ zugeschrieben werden. Den einen wie den anderen begegnet man etwa im Biergarten auf dem Münchener Nockherberg, wo sich bis heute alljährlich die so genannte Politprominenz aus ganz Deutschland zum Starkbieranstich trifft. Diesen Ort beschrieb der französische Surrealist Guillaume Apollinaire 1914 in der Erzählung „Der gemordete Dichter“ so: „Da saßen Kopf an Kopf die bereits betrunkenen Saufbolde, grölten aus vollem Halse, schunkelten und schlugen die leeren Maßkrüge in Scherben. Händler boten Brathendl feil, verkauften Steckerlfische, Brezeln, Semmeln, Wurstwaren, Zuckerzeug, Reiseandenken, Ansichtskarten. Seit Perkeo, dem Säuferzwerg vom großen Faß in Heidelberg, hatte man noch nie so ein Besäufnis erlebt. Zur Zeit des Märzenbiers, dann im Mai, der Bockbierzeit, vertilgte Hannes Irlbeck seine vierzig Liter Bier. Zu gewöhnlichen Zeiten kam er nur auf fünfundzwanzig.“
Wer heute zur Starkbierzeit auf den Nockherberg geht, stellt fest, dass sich die Hannes Irlbecks trotz aller selbst geschaffener Schwierigkeiten immer noch vermehren. Sie sind nach wie vor in beeindruckender Zahl vorhanden. Und ein Franz Josef Strauß verstand den Rausch eh noch als politisches Stilmittel. Davon kündet insbesondere sein darstellerisches Spätwerk, die Fernsehinterviews, die er in den Achtzigerjahren gegeben hat.
Wie zum Alkoholismus neigt der CSUler traditioneller Prägung zur Gesetzesferne. Eine Seite taz würde nicht ausreichen, um auch nur die wichtigsten Straftaten und -verfahren in Stichpunkten zu nennen, in die CSU-Politiker verwickelt waren und sind. Als nach Straußens Tod Max Streibl bayerischer Ministerpräsident wurde, sah es für eine Weile so aus, als würde die CSU an ihrer jahrzehntelang gepflegten Freunderlwirtschaft, jetzt plötzlich „Amigo-Affäre“ genannt, ernsthaften Schaden nehmen. Das Politikermodell des sauköpfig-verschmitzten „Mia san mia“-Dickschädels, der sich, egal für was, legitimiert hält, hatte ausgedient.
Dies war die politische Geburtsstunde des Superbayern.
„Hey Superbayern, olé, olé Superbayern, hey Superbaaayeeern!“ Dieser Triumphgesang, so berühmt wie die Nationalhymne oder Beethovens Fünfte, erschallt beinahe jede Woche mehrmals über ganz Deutschland, mitunter auch Europa. Immer dann nämlich, wenn die weltbeste Vereinsmannschaft im Fußball, der FC Bayern München, den anderen, die auch mitspielen dürfen, zeigt, wer die Lederhosen anhat.
Mit „Superbayern“ meinen die Fans dabei weit mehr, als der Uneingeweihte glauben mag. Superbayern, das sind nicht nur Männer wie Samuel Kuffour, Giovane Elber, Claudio Pizzaro, Paolo Sergio und Roque Santa Cruz, die den FC Bayern unbesiegbar machen. Superbayern sind auch und vor allem die Leute, die das ermöglicht haben und immer noch ermöglichen. Leute wie Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge etwa. Superbayern sind außergewöhnlich erfolgreiche und strahlende Menschen. Viele von ihnen sind prominent, noch mehr sind es nicht. Das macht nichts, denn erstens kennt jeder einen, der prominent ist, und zweitens könnte man jederzeit selbst prominent werden, aber will ja gar nicht. Die meisten „Superbayern“ leben in Oberbayern, das einige von ihnen gerne „Altbaiern“ nennen, zwischen München und Chiemsee. Sie sitzen dort, ausgestattet mit dem Selbstbewusstsein texanischer Ölmagnaten, in „Golf- und Landklubs“ herum und freuen sich des Lebens.
Berühmte Superbayern sind zum Beispiel auch Boris Becker und Professor Müller-Wohlfahrt. Superbayern sind alle, die von genügend anderen Superbayern für ihresgleichen gehalten werden. Am Rande: Selbst prominente Bewerbungen werden, wenn nötig, abgelehnt. Lothar Matthäus etwa konnte trotz größter sportlicher Erfolge den Status Superbayer nie erreichen. Manche vermuten, weil er Franke ist – die Rolle Frankens in Bayern ist mit der Lesothos in Südafrika zu vergleichen. Tatsächlich aber war es Professor Müller-Wohlfahrt, der das gesellschaftliche Todesurteil über ihn sprach, indem er ihn alles in allem als inadäquat für seine Tochter befunden hat. Lothar Matthäus lebt heute zurückgezogen als Fußballtrainer in Österreich.
Edmund Stoiber ist weder der erste Superbayer noch der größte. Der erste und größte Superbayer ist Franz Beckenbauer. Beruf: Lichtgestalt, Weltmeister, Europameister, Weltpokalsieger, Europapokalsieger, Präsident des FC Bayern München. Der wiederum ist Rekordmeister, Weltpokalsieger, Europapokalsieger und so fort.
Nach landläufiger Meinung ist der FC Bayern längst kein Sportclub mehr, sondern ein Wirtschaftsunternehmen, in dem es nur ums Geld geht. In Wirklichkeit aber ist der FC Bayern längst kein Wirtschaftsunternehmen mehr, in dem es nur ums Geld geht, sondern das Identifikationszentrum des neuen Bayern – und der Superbayern. Der schlaue Ed hat für so was ein Gespür. Nicht umsonst gehören Interviews zum Spielverlauf mit dem Verwaltungsratsvorsitzenden des FC Bayern, Herrn Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber, zum Kern der Fußballberichterstattung des Bayerischen Rundfunks. Früher war es selbst in Bayern so, dass Politiker in Fußballstadien grundsätzlich ausgepfiffen wurden. Wenigstens, solange dort Fußball gespielt wurde. Eine eiserne Fußballregel war immer, dass es beim Fußball um Fußball geht – und um nichts sonst. Der schlaue Ed hat es geschafft, sich in das System Fußball einzuspeisen. Wenn man am Radio nicht richtig hinhört, könnte man ihn manchmal nachgerade für sein Vorbild in Fußballdingen halten, so gut ahmt er Beckenbauers Rhetorik nach: „Ja gutt, äh, mit Sicherheit . . .“
Die Gesellschaft der Superbayern ist flexibel. Sie gestattet atemberaubende Karrieren. Analysten der amerikanischen Beraterfirma Merrill Lynch zeigten sich schon vor drei Jahren begeistert von der „laptop and lederhosen“-culture und erklärten Bayern zum europäischen Hightech-Spitzenstandort. Doch auch auf anderen Feldern kann man es im neuen Bayern schnell zu etwas bringen.
Sheila Malek ist Jurastudentin in München. Ihr Vater stammt aus dem Iran. Im Juli 2001 trat Sheila Malek in die Christlich Soziale Union ein. Nur sechs Monate später saß sie auf dem Podium des CSU-Parteitags in Nürnberg – und zwar in der Torte versteckt, die Innenminister Günther Beckstein Edmund Stoiber als Geburtstagsgeschenk präsentierte. Sheila Malek ist nämlich nicht nur Jurastudentin, sondern vor allem die „Miss Bayern“ des vergangenen Jahres. Da gehört das zum Berufsbild. Auf ein Stichwort von Herrn Beckstein sprang die – ich kann’s mir nicht verkneifen – „bildhübsche Perserin“ aus der Torte und tanzte in knappen Sachen um den Herrn Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber herum, dem die Angelegenheit mehr als unangenehm zu sein schien, da sie ja inhaltlich überhaupt nichts zur Sache tat. Wie sagte doch Beckstein: Wenn Stoiber die Wahl habe, nehme er lieber eine „dicke Akte“ als eine „schlanke Nackte“ „zur Hand“, und so wurde seine Beklommenheit angesichts der ihn betanzenden Bildhübschen zu einem weiteren Beweis seiner politischen Integrität.
Eben diese gelingt ihm selbst in Nebensächlichkeiten zu verkörpern, wie seit Jahrzehnten keinem anderen CSU-Politiker. Er selbst gefällt sich in der Rolle des knallharten Pragmatikers. Seine unsägliche Äußerung aus den Achtzigerjahren über eine „durchrasste und durchmischte“ Gesellschaft, die er nicht wolle, blieb singulär. Der Vorwurf, er sei ein rechter Ideologe, gleitet an ihm ab wie Wasser an Wachs. Stoiber ist ein Leistungsfanatiker wie alle Superbayern. Gegen Ausländer hat er nichts, solange sie Leistung bringen, egal ob am PC oder auf dem Rasen. Gegen Inländer, die keine Leistung bringen, hat er schon was. Aber solche gibt es in Bayern kaum noch.
Computerinder, Fußballbrasilianer, Superbayern heißt die Traumkombination aus München. Und was hat Schröders Berliner Republik? Probleme. Die Geschichte wiederholt sich keineswegs. Das „Niemals kann ein Bayer Bundeskanzler werden“ von 1980 gilt im Fall Stoibers nicht. Sollte er es tatsächlich schaffen, hieße das: Nachsitzen für ganz Restdeutschland.
Georg M. Oswald ist Schriftsteller und lebt in München. Zuletzt erschien sein Roman „Alles was zählt“
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