: Konsequentes Eiskremverbot im Packhaus
■ Russische Theaterkunst in Bremen: Radij Golovkovs Inszenierung von Anatolij B. Marienhofs „Zyniker“ wurde zum ersten Mal auf deutsch gespielt
In Bremen lebt und arbeitet ein junger Regisseur und Schauspieler mit bemerkenswerter Originalität, Kraft und Produktivität: Innerhalb von drei Monaten stellte sich Radij Golovkov zuerst mit einer Filmpremiere und dann mit einem Theaterstück vor – doch kaum einer hat es gemerkt.
Denn Golovkov arbeitet nicht nur konsequent unabhängig von den hiesigen Kulturinstitutionen, er ist auch noch Russe und macht konsequent russische Kunst. Er interpretiert aber nicht etwa zum hundertsten Mal die Stücke von Tchechow neu, sondern widmet sich unbekannten Autoren wie Alexander Vampilov und Anatolij B. Marienhof.
Da kommt man als hiesiger Kino- oder Theaterbesucher schwer hinein. Seine filmische Adaption vom Vampilovs „Zwanzig Minuten mit einem Engel“, die im November in der Schauburg Premiere hatte, überzeugte dennoch als eine existentielle Filmparabel, bei der man etwa die Symbolik nicht bis ins Letzte entziffern können musste, um beeindruckt und berührt zu sein.
Aber das Stück „Zyniker“, dessen deutsche Fassung jetzt im Packhaustheater Premiere hatte, erwies sich als viel schwieriger zu entziffern. Das fängt schon mit dem Titel an: Da gab es keine Zyniker im herkömmlichen Sinne auf der Bühne, sondern das Stück erzählt von der unglücklichen Liebe zweier junger russischer Adeliger, die in den Jahren nach der Oktoberrevolution langsam zwischen den Zeitläufen zerrieben werden.
Der autobiografische Roman von Anatolij B. Marienhof war bis in die 90er Jahre hinein verboten. Golovkov adaptierte ihn dann 1999 für das Theater, führte seine Inszenierung in russischer Sprache auch im Packhaustheater auf, und jetzt liefert er die deutsche Fassung nach.
Nun wird wohl ein Russe den Kontext, die Andeutungen, Verkürzungen und Überhöhungen ohne Schwierigkeiten verstehen und wird auch um den Roman wissen. Ein deutscher Zuschauer (oder sagen wir lieber, der deutsche Zuschauer Hippen) war oft schlicht ratlos, weil er viele der Zeichen nicht lesen konnte. Der Handlung war dabei noch halbwegs gut zu folgen: Olga und Vladimir ziehen zusammen, heiraten, verlieren dann zunehmend Status, Wohnraum und Lebensmöglichkeiten.
Olga wird ihm untreu und muss sich prostituieren, während er seine wertvollen Bücher in die Antiquaritate schleppt. Die beiden verelenden auch seelisch immer mehr, das tragische Ende naht.
Marina Schmidt und Radij Go-lovkov spielen (mit starkem russischen Akzent) die beiden Protagonisten, Golovkov auch noch einen Bolschewiken, der zwischen sie tritt. Beide strotzen vor Intensität, manchmal waren die Gesten schon fast so melodramatisch übertrieben wie in alten Stummfilmen. Man merkte der Inszenierung an, dass sie von Golovkov mit viel Ehrgeiz, Fantasie und Energie angepackt wurde.
Am erhellendsten war das Stück dann, wenn es schlicht dokumentierte: So erfuhr man etwa aus einer Textstelle, dass gemäß einer der ersten Bestimmungen nach der siegreichen Oktoberrevolution die Produktion und der Verkauf von Eiscreme verboten wurde, oder es wurde das (erstaunlich bürgerliche) Angebot an Theateraufführungen von Moskau aus der Pravda von 1921 vorgelesen. Mit solchen Details war die Vorführung am interessantesten, und vielleicht sollte Radij Golovkov die Inszenierung in dieser Richtung verändern.
Denn im Grunde war dies noch gar keine deutsche Fassung des Stückes, sondern nur die Übersetzung der russischen Version – inklusive vieler Rätsel.
Wilfried Hippen
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