Von der Dummheit des Erzählens

Das Jahr 1989 wird besichtigt: Walter Kempowski, der Fanatiker des Details, veröffentlicht seine Tagebücher aus geschichtsträchtigen Monaten

von KLAUS MODICK

„Wer Tagebuch schreibt, muß ein Sonnensegel in seinem Universum entfalten, da finden sich immer Staubpartikel.“ Nach „Sirius“, dem Tagebuch des Jahres 1983, begibt sich Walter Kempowski zum zweiten Mal auf Partikelfang. Besichtigt wird das geschichtsträchtige Jahr 1989: „Vor fünfzig Jahren Kriegsanfang, 40 Jahre Bundesrepublik und DDR. Das 200jährige Jubiläum der Französischen Revolution.“ Es wird sich auch als das Jahr des Tianamen-Massakers und schließlich des Mauerfalls entpuppen.

Zugleich verweist der Titel auf Kempowskis Großcollage „Das Echolot“. Denn Alkor ist auch eine Bezeichnung für Klarsichtfolien, die in der Konzeption dieser kollektiven Tagebücher eine Rolle spielen: „Ich denke mir für das ‚Echolot‘ Transparentseiten aus. Der eigentliche Text, die Überlieferung, wird auf ihnen gedruckt, darunter stehen Ängste und Träume.“ „Alkor“ ist also zunächst einmal Arbeitsjournal, in dem der Autor Grundsatzüberlegungen anstellt und Skizzen entwirft. Dabei werden die eigentlichen Tagebuchauszüge aus Briefen und Notizheften ergänzt. Man hat es also mit einer Konstruktion zu tun, die zwar aus Dokumenten spontaner Reaktionen zusammengesetzt ist, diese jedoch methodisch organisieren und bestimmten Absichten unterwerfen. Zur Konstruktion gehört, dass jeder Tag mit den Schlagzeilen der Bild-Zeitung und des Neuen Deutschland eröffnet wird; an Sonntagen müssen Welt am Sonntag und Sonntag die Nullinformationen aus West und Ost heraustrompeten. Zur Grobschlächtigkeit von Boulevard- und Parteijournalismus tritt Kempowskis penible Detailarbeit dann in den gewünschten Kontrast: „Meine Möglichkeiten liegen im Mikroskopischen und in der Skurrilität.“

Gerade wegen seiner Stilisierung, in der das scheinbar Absichtslose als Inszenierung erscheint, ist „Alkor“ jedoch – zweitens – Autobiografie: ein selbstironisches Posenalbum, in dem Kempowski diverse Selbstdarstellungen durchspielt. „Nach den Rollen tasten, die in einem angelegt sind – das ist es.“ Aus dem Klappenfoto blickt er uns in Gestus und Garderobe eines soigniert-jovialen Gutsbesitzers entgegen.

Ein anderes Mal bekommt er von einer Verehrerin einen weißen Pfau angeboten: „Die Vorstellung, einer Interviewerin mit einem Pfau am goldenen Halsband entgegenzutreten . . .? Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen.“ Eine solche pfauenhafte Stefan-George-Mimikry für die besser verdienende Halbbildung seines Publikums bliebe ein albernes Selbstverkennungsritual, würde Kempowski nicht gleich in der nächsten Groteske Versteck suchen, diesmal im Klischee der Gartenlaube: „Für einen Dichter ist die Laube wie geschaffen . . . Und Besucher müßten her, wie es sie auf der ganzen Welt nicht gibt. Nachdenkliche Greise, geistreiche Frauen, tief einatmend, daß der Busen sich hebt . . .“ Und als ob es nicht schon peinlich genug sei, ausgerechnet der Illustrierten Quick einen Beitrag zum Thema „40 Jahre Bundesrepublik“ zu liefern, wirft er sich dazu gleich vaterländisch in Schale: „Auf dem dazugehörigen Foto bin ich mit schwarzem Hemd, roter Jacke und goldenem Strohhut zu sehen.“

Gelegentlich werden solche Eulenspiegeleien aber selbst dem Poseur Kempowski unheimlich: „Als ob ich dem Klischee nacheifere, das sich in der öffentlichen Meinung über mich gebildet hat.“ In Wahrheit dienen diese teils realen, teils imaginierten Rollen dem Gegenteil: Sie dekonstruieren die Klischees, indem sie sie als etwas vorführen, was Kempowski einmal zu Rossini notiert: „Unerträglich, aber doch ganz hübsch.“ Er ist, sagt Kempowski durch diese Maskeraden, immer schon ein anderer, aber wer er ist, weiß er selber nicht. Seine unermüdliche Produktion ist jedoch der Versuch, die eigene Identität zu finden, indem sie ständig neu erfunden wird. „Vielleicht wird mein ‚Sirius‘ in 100 Jahren auch Teil eines ‚Echolots‘. Lustige Person vor Hintergrund.“ Erst wenn der Autor vollständig zum Werk geworden, in seinem Werk sozusagen verschwunden ist, kann er als Person erfasst werden.

Als lustige Person freilich grimassiert Kempowski sich nicht zuletzt deshalb durch die Gegenwart, weil er sich dort, wo er es ernst meint, verkannt fühlt: „Wo andere Leute den ‚Versuch eines Fragments‘ schreiben (und dafür Preise über Preise einheimsen), nimmt sich der Mann aus Nartum Kolossalbauten vor. [. . .] In einem Zeitalter der Zweieinhalb- Minuten-Kultur ist so etwas verdächtig.“ Bei geringeren Autoren ist das Werk die Pose – bei Kempowski bildet das Werk die Identität aus, und seine Maskeraden sind Selbstschutz. Unmaskiert zeigt er sich nur bei dem, was einen Schriftsteller unter der Schminke von Talent und Pose wirklich ausmacht: beim Werk. „Ich sitze vor dem Computer wie früher vorm Radio, wenn ich insgeheim BBC hörte. Oder wie an einem Funkgerät, durch das ich Verbindung aufnehmen muß mit den Seelen, die mir erzählen wollen von ihren letzten Stunden.“

Drittens schafft sich der Autor mit „Alkor“ ein Feld, auf dem er räsonieren kann – hemmungslos, weil durch die Tagebuchform geschützt. In diesem räsonierenden Selbstgespräch sind zwei miteinander korrespondierende Themen krisenfest und kaum von Kempowskis notorischer Selbstironie angekränkelt: zum einen ein beinharter Antikommunismus, zum anderen ein Selbstkultus des Verkannten und Ausgegrenzten. Wo Günter Grass überall eine postmodern-neokonservative Kamarilla wittert, sieht sich Kempowski umgekehrt von einer höchst diffusen „Linken“ umzingelt: „Nur Feinde habe ich, an Freunde kann ich mich nicht erinnern.“

Kempowski kann es sich in dieser Rolle des großen Einzelgängers, die freilich auch nur eine Pose unter vielen ist, allerdings besonders gemütlich einrichten, weil es ihm an Verehrern und Lesern nicht mangelt. Sie laufen dem „Volksschriftsteller“ die Tür ein, gegen die Fanpost kommt er kaum an. Die Ohnmacht tariert sich also aus durch soliden Größenwahn, in dem Kempowski dann auch wieder zur Besinnung, sprich: zur Selbstironie im Pluralis Majestatis zurückfindet, wenn er anlässlich eines euphorischen Leserbriefs notiert: „Erst wenn die Straßen unserer Städte voll Menschen sind, die im Gehen Kempowski lesen, haben wir es geschafft.“

Kempowski wurde 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen absaß. Das Trauma von Bautzen bildet eines der zentralen „Urerlebnisse“ Kempowskis. Ein weiteres Motiv ist die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. „Vielleicht ist alles, was ich geschrieben habe, eine Antwort darauf?“ Das Zusammenspiel beider Grunderfahrungen ergibt Kempowskis Totalitarismuskritik. „Das allgemeine Kommunismus-Desaster gesellt sich zur Hitler-Hölle als unerhörtes Erlebnis.“ Eine simple Gleichung Rot = Braun macht er dennoch nicht auf; dafür ist er ein zu genauer Beobachter, für den „jeder Völkermord sein eigenes Gesicht“ hat.

Selbstironische Rollenspielerei und Räsonnement brechen sich im Tagebuch so heftig Bahn, weil für sie in den Romanen, erst recht in den Großcollagen, kaum Platz ist. Sie sind von moralischen Wertungen und ideologischen Erklärungen fast völlig frei, weshalb Kempowski hinsichtlich seines „Echolot“-Projekts eine Verwandtschaft zu Walter Benjamins Passagen-Werk entdeckt. Denn Benjamins Absicht, das reine Material sprechen zu lassen, und seine Bemerkung, er habe nichts zu sagen, aber alles zu zeigen, findet sich bei Kempowski in folgender Formulierung wieder: „Auf verbindende Texte muß unter allen Umständen verzichtet werden. Für Kursiv-Sätze bin ich nicht zu haben.“

Den Verzicht auf Teilnahme am politischen Diskurs begründet er mit seiner Naivität: „Leider fehlt es mir an Wissen und an der nötigen Aggressivität. Sonst würde ich mich einmischen.“ Im Werk selbst ist dieser Verzicht auf Erklärungen, auf die „Kursiv-Sätze“, ein ästhetisches Prinzip – die Kehrseite des Räsonnements, wie Theodor W. Adorno es in seinem Essay „Über epische Naivetät“ entfaltet hat. „Gegenüber dem aufgeklärten Bewußtseinsstand, [. . .] dem allgemeinbegrifflichen Wesen“, erscheint die Gegenständlichkeit des Erzählens „stets als eines von Dummheit, ein Nichtverstehen, Nichtbescheidwissen, verstockt ans Besondere sich Halten“, um „treu und unverstellt was einmal war so festzuhalten, wie es war“, wodurch solche „Dummheit des Erzählens“ in den Verdacht restaurativer Ideologie geraten ist.

Diese „Dummheit“ beherrscht die Romane Kempowskis und erst recht „Das Echolot“, insofern der „dumme“ Erzähler hier schweigt und das Material sprechen lässt. Das Material aber sind Menschen. Im Tagebuch findet sich ein Eintrag, der die Methode präzise fasst: „Wer von Thesen ausgeht und dafür Beispiele sucht (im Roman), verstößt gegen das wichtigste Prinzip der Kunst. Vom Faßbaren ausgehen. Die Welt untersuchen, wie sie ist, nicht vom Bild der Welt ausgehen, wie man’s sich gemacht hat, und dann überprüfen wollen, ob’s stimmt.“

Nicht zu Unrecht fühlt Kempowski sich mit Arno Schmidt verwandt. Beide sind Meister der Textmontage, Fanatiker des Details, und beide interessieren sich für das Bodenlose im Banalen. Während Schmidt seine kreative Energie aber immer stärker in sprachliche Feinstrukturen verschob, zielt Kempowskis Projekt auf eine Art Rettung der Dingwelt und eine, bisweilen urkomische, Archivierung der Umgangssprache. Daher in den Romanen der Plauderton, der Gestus eines scheinbar kunstlosen, heruntergespielten Stils – eine „Dummheit“, die sich dem Sprechen verdankt, dem Erzählen und dem sehr genauen Hinhören aufs Erzählte, die also ihre Exaktheit wie ihre Lockerheit aus oraler Überlieferung bezieht.

Wer die Welt nicht beobachtet, wer den Menschen nicht aufs Maul schaut, der hat auch nichts zu erzählen. Als sich die Mauer öffnet, nimmt Kempowski das vor dem Fernseher mit begeisterter Genugtuung auf. Kritik übt er jedoch an der Berichterstattung: „Lea Rosh, in Mauerbesichtigungs-Spezialkleidung mit hochgedonnertem Haar, lief in Mauernähe mit Mikrophon herum, sie will sagen können, sie sei dabei gewesen. Interessant, wie sie nur die Antworten bekam, die sie auch hören wollte.“ Der Journalismus versteht die Welt nicht, weil er weder zu fragen noch zuzuhören versteht. Dafür bedarf es der Dummheit eines Erzählers vom Schlage Walter Kempowskis: Den Menschen „zuhören und sie ausreden lassen. Dafür bin ich da.“

Walter Kempowski: „Alkor. Tagebuch 1989“. Albrecht Knaus Verlag. München 2001, 608 Seiten, 29 €