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Multiperspektivisch Welt erfassen

■ Der Digitalisierung der Realität nachforschen: Seit zehn Jahren leitet Ursula Keller das Literaturhaus

Sie hätte nie gedacht, dass sie es so lange an einem Ort aushalten könnte – und dass es ihr auch noch gefallen würde: Seit zehn Jahren leitet Ursula Keller das Hamburger Literaturhaus, seit zehn Jahren ist sie nicht mehr freie Journalistin, Filmemacherin, Dramaturgin. Im Januar 1992 löste sie Christina Weiss ab, die damals zur Kultursenatorin avancierte. In diesem Punkt wird Ursula Keller nicht in die Fußstapfen ihrer Vorgängerin treten: Der Kultursenator-Job wäre ihr einfach zu langweilig, sagt sie.

Ursula Keller: Das Schöne ist, dass ich hier alles, was ich vorher gemacht habe – Dramaturgie am Theater, Filme fürs Fernsehen , Autorenporträts, Essays – miteinander verknüpfen kann. Ich versuche immer, auch die anderen Bereiche – Bild, Musik und Theater – im Blick zu behalten, um Grenzgänge zwischen den Künsten zu ermöglichen.

taz hamburg: Begonnen haben Sie ihr Amt 1992 mit dem Ziel, Außergewöhnliches zu bieten. Welches war die größte Provokation?

Als provozierend wurde damals empfunden, dass ich den Hamburger Autoren jeden „lokalpatriotischen“ Bonus abgesprochen habe. Das hat mir keine Freunde gemacht. Dabei beobachte ich natürlich auch die hiesige Szene genau. Im Frühjahr wird es zum Beispiel einen Abend mit Hamburger Debütromanen geben. Aber grundsätzlich mache ich ein sehr internationales Programm, das versucht, urban zu sein. Kriterium ist letztlich literarische Qualität.

Woran machen Sie literarische Aktualität im Einzelnen fest?

Mich interessieren experimentelle, eigenwillige, sprachlich originelle Formen. Derzeit läuft die Reihe „Fakten, Fakes und Fiktionen“, die das Eindringen der Wissenschaft in die Literatur untersucht – anhand von Autoren wie Jan Kjaerstad oder Richard Powers. Sie übersetzen wissenschaftliche Denkmodelle oder molekulare Strukturen in literarische Erzählweisen.

Halten Sie die Vermischung von Wissenschaft und Literatur für wünschenswert?

Nicht grundsätzlich, aber wir leben in einer Wissensgesellschaft, und Wissenschaft ist Teil unserer Wirklichkeit. Und wenn Literatur Realität durchdringen will, muss sie die Medialisierung, das Verschwinden, die Simulation, die Digitalisierung, auch die Verwissenschaftlichung der Realität wahrnehmen. Daher veranstalte ich auch kulturtheoretische Reihen, anhand derer ich ein Thema über längere Zeit verfolge. Es gab zum Beispiel eine Reihe über Stadtkultur, über Orte und Nicht-Orte, über schreibende Selbstmörderinnen...

Sie sagten, Urbanität sei ein Zeichen für Aktualität. Wird die Stadt auf ewig maßgebender sein als die Peripherie? Könnten sich nicht neue Zentren bilden?

Viele Autoren, die hierher kommen, sitzen ja in der Provinz. Aber Metropolen sind einfach Versuchsanordnungen für Wirklichkeit und Zeitgenossenschaft. Es sind Ballungszentren von Problemen, an denen sich Tendenzen am deutlichsten enziffern lassen.

Originär urbanes Phänomen ist die Popliteratur. Wie überzeugend finden Sie deren Output?

Gar nicht. Und deswegen habe ich sie anfangs jahrelang boykottiert. Dann hat mich aber die Überbewertung der Popliteratur in den Feuilletons so geärgert, dass ich die Reihe „Alles Pop oder was? Wohin geht die junge Literatur?“ gestartet habe, um zu zeigen, dass die junge Literatur viel mehr bietet als Pop. Dass der derzeit zelebrierte Pop nichts Zeitgenössisches hat, sondern sich der Schreibweisen und Attitüden von vorgestern bedient.

...des Dandyismus zum Beispiel?

Ja, aber der verflachtesten Variante der Dandyisten. Denn das war ursprünglich ein interessantes Phänomen, wenn man an Baudelaire und große Dandys wie Oscar Wilde denkt. Das war eine Lebensphilosophie, ein Ich-Entwurf, eine rebellische Attitüde!

Die zeitgenössische Popliteratur ist Ihnen also zu brav?

Nun ja, wir wollen nicht vergessen, dass Pop zu seinen Hochzeiten einen wirklich subversiven Gestus hatte, analytisch und ironisch war. Das war nicht einfach nur die zynische Affirmation dessen, was ist.

Sie selbst wollen keine Affirmation, sondern die Welt multiperspektivisch umgreifen, wie Sie oft betonen. Welche Visionen haben Sie für das Literaturhaus?

Ich denke, dass das Literaturhaus eine der glücklichsten Erfindungen der letzten Jahre ist. Es lässt zu, schnell auf zeitgenössische Phänomene zu reagieren und ist Forum für Reflexion und Auseinandersetzung. Und weil die Uni hier, öffentlich gesehen, ein Totalausfall ist, bleibt das Literaturhaus als einziger Ort, an dem diese öffentliche Diskussion möglich ist.

Den Schwerpunkt „Islam und Moderne“ etwa gibt es seit Jahren; die Reihe „Lesarten des Terrors“ beginnt im Februar. Sie startet mit einem Text des arabischen Lyrikers Adonis, der vor 30 Jahren das Gedicht Ein Grab für New York schrieb. Der Text, der viel von dem vorwegnimmt, was am 11. September passiert ist, war ursprünglich durch die Anti-Vietnam-Bewegung inspiriert. Sehr sensibel hat der Autor darin den Hass gegen den Vormachtanspruch der amerikanischen Kultur erfasst. Wohlgemerkt, nicht gegen die europäische, da wurde immer klar unterschieden. Vielleicht ein Ansatzpunkt für eine künftige Diskussion.

Interview: Petra Schellen

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