: Einfach nur Lebensabend
Der jüngste Rentner der Welt. Eine Begegnung im Altersheim am Waldsee
Auf den ersten Blick könnte er Zivildienstleistender sein, wenn er, die langen Haare zu einem Zopf geflochten, zwischen all den alten Menschen über den Flur schlurft und mal hier, mal dort einem Rollstuhlfahrer Starthilfe gibt. Fast zwei Meter groß ist Gerd Winter, und er wirkt wie ein Bär, der ein Rehkitz aus der Falle befreit, wenn er vor einem greisen Mütterlein niederkniet, um ihre Gehhilfe zurechtzurücken. Angestellt aber ist er nicht, Winter lebt hier, ist Bewohner des Altersheims in Schwafheim. Er ist Rentner, der jüngste Rentner der Welt, wie er sich selbst gern nennt.
„Arbeit, so was hat mich nie interessiert“, erklärt der 24-Jährige. „Studium? Na ja, weiß nicht.“ Winter zuckt mit den breiten Schultern. Er genieße eben die gemütliche Atmosphäre im „Seniorencentrum am Waldsee“, wie das Altersheim offiziell heißt. „Ist ja auch egal . . .“ Winter gähnt und bietet uns beiläufig Schokoladenkekse an, die auf dem Tisch im Gemeinschaftsraum von der Nachmittagssonne beschienen werden. In der Ecke brüllt ein Fernsehgerät. Eine Talkshow. Drei Greise hocken davor. Betäubt.
„Das fing mit dem Abitur an“, fährt Winter fast gelangweilt fort und streicht sich mit seinen erstaunlich feinen Fingern einige Krümel vom Norwegerpullover. „Mir war schnell klar, dass ich für die Welt da draußen, für die Wirtschaft und die Geschwindigkeit und die Arbeit nicht geschaffen bin.“ Erschöpft hält Gerd Winter inne. So einen langen Satz hat er offenbar seit Wochen nicht mehr gesprochen. Eine fahlblonde Strähne ist ihm in die Stirn gefallen, und im Gegenlicht, mit dem hellen Kranz um seinen Kopf, strahlt er die Ruhe eines weisen Mannes aus. Ob er sich denn nicht manchmal langweile zwischen den vielen Hinfälligen, ohne Altersgenossen, ob er nichts vermisse? „Warum? Hier dürfen die Alten einfach nur alt sein. Kein Seniorensport. Keine Fitness. Keine Wellness. Bäh!“ Entrüstet legt er ein Rätselheft auf einen Zeitschriftenstapel.
Die Pflegerin betritt den Raum und schaut nur kurz auf das Talkshow-Trio, das immer noch benommen vom Gebrüll der jungen Frau dasitzt, die jetzt unter Tränen zu erklären versucht, warum sie einen Dieter zugunsten eines Frank aufgegeben habe, dass „dem Dieter seine Tätuhs“ immer andere „nackte Tussies“ und nie sie zeigten, dabei habe sie doch – sie lüftet die Bluse – so „schöne Dinger“. Regungslos starren die Alten auf den Schirm, sie müssen bereits verstorben sein. „Gerd, gleich Abendessen?“, fragt die Pflegerin den müden Winter. Der nickt.
„Und dann, ja dann . . .“ Gerd Winter wälzt sich langsam durch sein Leben. Als Sohn eines Beamten und einer Hausfrau ist er im niederrheinischen Städtchen Moers geboren und im Vorort Schwafheim aufgewachsen. „Hab’ immer hier gelebt, nie was erlebt, wozu auch.“ Winters Bass beginnt zu leiern. Seine Mutter habe ihn stets umsorgt, der Vater interessiere sich von jeher kaum für ihn. „Das heißt“, und Winter lächelt, „vor kurzem hat er mich sogar besucht. Hier. Im Altersheim. Die lieben Verwandten . . .“ Er schüttelt sich, als wolle er jemanden enterben. „Nicht, Heinz? Die Verwandten!“, ruft er plötzlich und übertönt mühelos den Fernsehspuk. Wie in Zeitlupe dreht sich der Kopf einer Mumie in unsere Richtung: „Ja, ja, aber immer“, knickert es über die bröckeligen Lippen, während der Kopf schon zurückschwenkt in die Bildschirmachse. Winter grinst. „Der Heinz. Hat’s auch nicht leicht. Mein Zimmernachbar. Witwer“, beendet er den Ausflug ins fremde Leben.
„Und dann war ich bei Tschibo.“ Zufrieden klatscht Winter in die kleinen Hände. Sein mächtiger Bauch zuckt kurz, als erinnere er sich eines echten, starken Kaffees. Beinah wehmütig betrachtet er die Kanne mit dem „Caro“-Aufkleber. „Da sah ich das Schild: Riester-Rente. Dann ging alles sehr schnell.“ Vertrag abgeschlossen. Rente gesichert. Platz im Altersheim gesucht. Seniorencentrum am Waldsee. „Und jetzt einfach nur Lebensabend.“
Ob wir denn nach dem Essen mit ihm einen Spaziergang um den Waldsee machen wollten, rafft sich Winter auf, als die Pflegerin einen Brotwagen heranschiebt. Dann könne er uns auch noch mal genau erklären, wie man sich den Platz sichere, er mache nämlich gern Reklame für Schwafheim, schmunzelt er in sich hinein, ist jedoch gar nicht enttäuscht, als wir uns verabschieden müssen. „Man sieht sich immer zweimal im Leben“, winkt er noch einmal schlaff herüber, bevor er genüsslich in ein doppelt belegtes Salamibrötchen hineinbeißt. MICHAEL RINGEL
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