: Kauz trifft auf Jüngling
In Moskau wird seit gestern der 17. Weltmeister der Schachgeschichte ermittelt. Er wird Wassili Iwantschuk oder Ruslan Ponomarjow heißen – und garantiert aus der Ukraine kommen
von HARTMUT METZ
Von dem Mann, der demnächst schon Schachweltmeister sein könnte, gibt es eine Geschichte, die man sich so erzählt: Wassili Iwantschuk verfolgte gespannt eine abseits eines Turniers gespielte Partie zweier Patzer. Tief vergrub der Weltranglistenachte den Kopf in seinen Händen und folgte ohne eine Regung dem Geschehen. Nach einiger Zeit war dem Ukrainer ein Zug doch zu schlecht, weshalb er schüchtern eine Verbesserung vorschlug: „Wie wäre es denn damit?“ Barsch wiesen die Amateure Iwantschuk zurecht, woraufhin dieser in seine vorherige stumme Denkerpose zurückfiel. Kurz darauf schlenderte John van der Wiel vorbei. Der Niederländer, der weit außerhalb der Top 100 platziert ist, blickte nur kurz aufs Brett, bevor er sich gelangweilt entfernte. Ehrfürchtig stieß daraufhin der eine Patzer den anderen an: „Hast du das gesehen? Großmeister van der Wiel hat uns zugeschaut!“
Der noch amtierende Weltmeister Viswanathan Anand berichtete einst amüsiert von seiner Beobachtung in Monaco. Dem Inder verging bei der WM im Dezember jedoch das Lachen, als der „Tiger von Madras“ im Halbfinale just gegen Iwantschuk mit 1,5:2,5 unterlag. Der 32-Jährige krönte damit den Schachherbst für die Ukraine: Zuvor hatte das Nationalteam die Mannschafts-WM durch einen Sieg über Russland gewonnen. Den Erfolg verdankte die ehemalige Sowjetrepublik dem überragenden Ruslan Ponomarjow. Der 18-Jährige hatte am zweiten Brett hinter Iwantschuk mit 5,5:1,5 Punkten vier Siege und drei Remis zum WM-Titel beigesteuert.
Seit gestern sitzen sich die beiden Freunde im Einzelfinale des Weltverbandes Fide gegenüber. In den acht Partien im Moskauer Hotel Metropol geht es bis zum 26. Januar um rund 650.000 Euro Preisgeld. Wer dabei als neuer Weltmeister zwei Drittel einstreicht, scheint offen. Peter Swidler, der beim 1,5:2,5 in der Vorschlussrunde Opfer des „Russen-Killers“ Ponomarjow wurde, sieht den Aufsteiger des Jahres im Vorteil. „Von der Ratingzahl her ist er jetzt favorisiert“, verweist Swidler auf Ponomarjows Satz in der neuesten Weltrangliste von Platz 20 auf sieben. Mit 2.727 Elo-Punkten liegt er mit zehn Elo mehr direkt vor dem bisherigen ukrainischen Aushängeschild. Ein Kreis schlösse sich, bestiege Ponomarjow als jüngster Weltmeister aller Zeiten den Thron: Mit zwölf Jahren war das Wunderkind aus Kramatorsk bereits U18-Europameister, mit 13 U18-Weltmeister und mit 14 Jahren und 17 Tagen jüngster Großmeister aller Zeiten.
Während sich die beiden Finalisten jegliche Prognose verkneifen, wähnt das Gros der Koryphäen aber Iwantschuk reif für den Titel. Im Gegensatz zu früher habe „Chuky bei dieser WM seine Nerven sehr gut im Zaum“, hebt Anand hervor. Der Franzose Joel Lautier, der den Großmeister aus Lwow im Viertelfinale in die Blitzschach-Verlängerung zwang, ist sich „fast sicher, dass Iwantschuk gewinnen wird. Er spielt immer noch viel besser als Ponomarjow.“
Entsprechend dieser Prognose verlief die bisher einzige Turnierpartie beim Weltcup 2000, die Iwantschuk mit Weiß souverän gewann. Doch seitdem entwickelte sich Ponomarjow enorm – auch dank des Trainings seines Endspielgegners. Differenziert betrachtet Garri Kasparow das Match: „Ponomarjow spielt sehr konstant und solide“, befindet der Weltranglistenerste, der die WM im K.o.-Modus mit 128 Teilnehmern erneut boykottiert hatte. „Viel hängt von Iwantschuks Form ab.“ Der 32-Jährige agiere einmal auf allerhöchstem Niveau, dann wieder nur wie ein Nullachtfünfzehn-Großmeister. Kasparow taxiert Iwantschuks Aussichten auf die WM-Krone deshalb mit „55:45“.
Unabhängig davon, ob der als weltfremd beschriebene Kauz 17. Weltmeister der Schachgeschichte wird oder sein Lebensziel knapp verfehlt: Auch künftig wird sich Iwantschuk neugierig Partien von Patzern widmen. Jetzt mit dem Unterschied, dass die Amateure mehr Herzklopfen verspüren, wenn sie seine Blicke spüren – und ganz bestimmt seine Ratschläge annehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen