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Verrat mit Happy End

Vom Frust der Schriftsteller im Fernsehzeitalter: Jonathan Franzens Roman „The Corrections“ ist ein gutes Beispiel dafür, dass Erfolg auf dem amerikanischen Buchmarkt auch Probleme bereiten kann

Der Roman liegt in jeder Buchhandlung, mit dem Sticker „Oprahs Wahl“

von MICHAEL SAUR

Viel kann schief gehen in einem Jahrzehnt. Oder an einem einzigen Tag. Jonathan Franzen schrieb in den Neuzigerjahren in einem winzigen Studio in Harlem seinen Roman „The Corrections“. Das Buch erschien ein paar Tage vor dem 11. September. Das war Pech. Nach dem Datum interessierte sich Amerika fürs Erste überhaupt nicht mehr für Literatur. Aber dann: An einem der seltsamen Tage nach den Attacken, als in Amerika viel von Heilung die Rede war, verkündete die Seelentrösterin der Nation, die Fernsehtalkerin Oprah Winfrey, dass sie Franzens Buch für ihren monatlichen Fernseh-Buchclub auswählen würde: Nachdem der 11. September das Ende des Zynismus und endgültig das Ende des konsumfreudigen Börsianer-Kultur eingeleitet hatte, schien Oprah Winfrey Jonathan Franzens 568 dicke, ernste Familiensaga, die mit den Neunzigern abrechnet, passend.

Franzen erzählt darin die Geschichte des Lambert-Clans aus dem Mittleren Westen. Familienoberhaupt Alfred, einst Manager einer Eisenbahngesellschaft, wird von der Parkinson’schen Krankheit aus dem Leben in die Dunkelheit geführt. Seine Frau, die spießige Enid, die zwar unter dem prinzipientreuen Alfred litt, weiß nun mit seiner neuen Laxheit nichts anzufangen. Enid sehnt sich nach einer Existenz, die ohne Überraschungen auskommt. Mit großer Virtuosität, aber auch unter Schmerzen versucht sie, das Bild einer intakten Familie zu wahren. Dazu gehört, die Krankheit ihres Mannes zu bagatellisieren.

Schöngeredet werden muss auch das Leben ihres Sohnes Chip. Als Professor schlief er mit jungen Studentinnen und verlor den Lehrauftrag. Als Drehbuchautor ist er komplett unbegabt, und als ihn ein zunächst lukrativ aussehender Auftrag nach Litauen bringt, endet sein Besuch mit dem Niedergang des ganzen Landes. Enids Tochter Denise ist Köchin, ohne sich je für ein Gericht entscheiden zu können. Zum Leidwesen ihrer Mutter interessiert sie sich nur für verheiratete Männer. Später wird sie lesbisch. Sohn Gary stellt in einer Mischung aus Stolz und Panik fest, dass sein Leben verglichen mit seinen Geschwistern dem seiner Eltern am meisten ähnelt, weswegen seine Mutter sich für ihn am wenigsten interessiert. Er ist erfolgreicher Banker, verheiratet, hat drei Kinder, und ständig droht eine gewaltige Depression.

Franzen bedenkt alle fünf Protagonisten mit derselben Aufmerksamkeit. Seine Figuren umkreist er wie ein Kameramann, folgt ihnen in die nächste Lebenssituation, ohne die Hoffnung für sie je aufzugeben. Der Roman liest sich wegen seines hohen Wiedererkennungswerts wie ein Wochenendbesuch bei der eigenen Familie. Wie Enid zum Ende hin wartet man auf die kleinen Rettungen, die Franzen sorgfältig verteilt. „Das Buch endet mit einer leisen optimistischen Note“, urteilte Oprah Winfrey.

Jeder Autor – und jeder Verlag – in Amerika weiß, dass ein Auftritt in Oprahs Buchclub beinahe eine Million zusätzlich verkaufte Exemplare bedeutet. Deswegen gilt Oprah Winfrey als die mächtigste Frau im amerikanischen Verlagswesen. Ihre literarischen Vorlieben behandeln, was die Talkmasterin aus kleinen Verhältnissen aus dem eigenen Leben kennt: Misshandlung, Inzucht, Verrat, Einsamkeit und Armut, aber mit Happy End. Von allzu elitärer Literatur hält sie sich fern, wenngleich auch geistreiche Autoren wie Toni Morrison, Bernhard Schlink und Joyce Carol Oates bei ihr zu Gast waren. Der monatlichen Buchvorstellung folgt ein inszeniertes Abendessen vor der Kamera mit weiteren Gästen. Bei Kerzenlicht werden die Autoren von der Fernsehdiva befragt, hauptsächlich über Gefühle, denn davon versteht jeder was.

Als Oprah Jonathan Franzen („Eine wunderbare und traurige und doch optimistische Familiengeschichte“) als ihren nächsten Gast ankündigte, erklärte sie, Franzen habe so viel in dieses Buch gesteckt, „dass kein Gedanke in seinem Kopf geblieben sein kann“. Später wird Franzen sagen, dass das „eine seltsam passende Beschreibung für seine Reaktion auf Oprahs Einladung“ gewesen war. Er reagierte undeutlich wie hinter Milchglas. Ein klares Ja war nicht zu hören.

Und in den Buchhandlungen hörte Franzen oft den Satz: „Ich mag dein Buch. Es tut mir wirklich leid, dass Oprah es für ihren Club ausgewählt hat.“ Er zitierte seine Leser in einem Radiointerview, und er wiederholte das Zitat in einem Telefoninterview mit einer Provinzzeitung in Seattle. Als Oprah das zugetragen wurde, lud sie den Schriftsteller kurzerhand wieder aus. Der Skandal der Saison war da. Die neue Auflage des Romans mit einer halben Million Exemplare war da schon gedruckt. Auf jedem Schutzumschlag klebte der gelbe Sticker mit den Worten „Oprahs Wahl“.

Oprah hätte sich keinen zerisseneren Kandidaten aussuchen können. Die New York Times hatte vor Oprahs Einladung in ihrer feiernden Kritik bemerkt, dass „The Corrections“ zu gut sei, um seinen Weg in das Talkshow-Karussell zu finden. Vielleicht kannte der Rezensent einen Aufsatz, den Jonathan Franzen fünf Jahre früher in Harper’s Magazin veröffentlicht hatte. Franzen hatte darin über seine Frustrationen als Romanschriftsteller im Fernsehzeitalter geklagt. Er schrieb, dass ihn der Erfolg seiner beiden ersten Romane bei der Kritik seltsam kalt gelassen hatte. „Ich musste an meine Schulzeit denken, wo ich um die Anerkennung der Lehrer gekämpft habe. Wenn ich sie aber bekam, war sie mir sofort gleichgültig.“ Franzen wollte die Masse und war sauer, dass das Fernsehen die meisten Menschen von der Literatur weghypnotisiert hielt.

Stattdessen setzte er sich für eine Literatur ein, die leicht lesbar ist, aber trotzdem Literatur bleibt. Kühn kündigte er an, mit seinem nächsten Roman werde er den Beweis antreten, dass das sozial engagierte Erzählen nicht tot sei und sogar eine Chance gegen das Fernsehen habe. „The Corrections“ liegt noch immer in jeder Buchhandlung auf dem Stapel, versehen mit dem gelben Sticker von Oprah, der wie eine Medaille vom Schutzumschlag glänzt. Auf der New-York-Times-Bestsellerliste steht das Buch auf Platz drei – hinter John Grisham und James Patterson. Im November gewann Jonathan Franzen den National Book Award. Für den nächsten Pulitzer gilt er als aussichtsreichster Kandidat. Bei der Preisverleihung zum National Book Award in New York hatte der Moderator gewitzelt: „Bei Oprah werden wir ihn nicht sehen. Dafür tritt er nächste Woche bei Martha Stewart’s Kochshow ‚Good Morning Wisconsin‘ auf.“ Mit einem gerötetem Gesicht nahm Jonathan Franzen den Preis entgehen, strahlte und schüttelte die Hand des Moderators, des Hollywood-Komödianten Steve Martin.

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