: Brecht und antifaschistische Volkslieder
Zeigt viel mehr Zähne, als allgemein angenommen wird: Milva in der Musikhalle ■ Von Julian Weber
Fruchtbar oder furchtbar: In jedem Fall ist es interessant, was kulturelle Missverständnisse alles bewirken können. Die italienische Sängerin Milva kennt hierzulande wirklich jeder. Meist kommt sie in den Gesellschaftsspalten der großen Illustrierten vor: Milva heiratet einen Literaturprofessor, Milva erleidet einen Schwächeanfall. Im Plattenladen sind ihre CDs unter Schlager sortiert, gelegentlich finden sich die Aufnahmen auch im Fach „Italo-Pop“.
Milvas letzte Veröffentlichung in Deutschland, Artisti, erschienen im vergangenen Jahr, ist eine Ansammlung von Coversongs, darunter Stücke von John Denver, Julio Iglesias und Heinz Rudolf Kunze. Für den deutschen Markt singt die 62-Jährige gegen eine gepanzerte Schicht penetrantester Studio-Technik an. Ein meist vergebliches Unterfangen, das so gar nicht nach „Leichter Musik“ klingt. Erst am Ende der CD wird man mit zwei Liedern entschädigt, die aus der Feder des argentinischen Musikers und Komponisten Astor Piazzolla stammen.
Mit Piazzolla verbindet Milva eine lange Freundschaft. Noch zu seinen Lebzeiten spielte die in Mailand lebende Sängerin Aufnahmen mit seinem Orchester ein und gas-tierte zusammen mit dem argentinischen Bandoneon-Spieler für ein Theaterstück am Pariser Bouffes Du Nord. „Seine Musik ist surreal und sinnlich zugleich“, findet Milva, „und die Texte gefallen mir, weil sie so blutrünstig sind.“
Wenn es etwas gibt, das Milva – vor allem auf der Bühne – schon immer ausgezeichnet hat, dann ist es ihre Stilvielfalt. Songs aus der Dreigroschen-oper sind ebenso in Milvas ständigem Repertoire, wie Gospels, Lieder von Mikis Theodorakis, fran-zösische Chansons oder antifaschistische Volkslieder aus Ita-lien. Unterstützt von einem Salon-Orches-ter belässt sie die Lieder in ihren Originalversionen.
Milvas kräftige Stimme kommt bei dunkel anmutendem argentinischen Tango ohnehin besser zur Geltung, als bei Kuschelrock à la Heinz Rudolf Kunze. Es liegt nicht daran, dass Milva deutsch singt, es liegt daran, mit wem sie in Deutschland in Zusammenhang gebracht wird, dass sich ihr Pop- und Folksängerin-Image aus dem Rest der Welt nicht ohne Wertverlust hierher importieren lässt.
In den letzten dreißig Jahren arbeitete Milva mit zahlreichen Größen der internationalen Musikwelt zusammen, in Italien beispielsweise mit dem Filmmusikkomponisten Ennio Morricone und dem Cantautori Franco Battiato, immer waren diese Kollaborationen fruchtbar. Deshalb begeistern sich in ihrer Heimat unterschiedliche Altersschichten für ihre Musik. Kreischende junge Mädchen sind auf ihren Konzerten in Italien des Öfteren anzutreffen, ebenso ältere Herren, die ergriffen „Milva!“ rufen und Blumensträuße auf die Bühne werfen.
Begonnen hat die Karriere der Milva, die eigentlich Maria Ilva Biolcati heißt und auf einem Dorf in der Provinz Ferrara unter ärmlichsten Verhältnissen aufwuchs, reichlich unglamourös. Einem Journalisten der Jerusalem Post verriet sie einmal, sie hätte mit dem Singen angefangen, um von zu Hause wegzukommen. „Ich habe immer weitergesungen. ,Don–t cry for me, Argentina' – das sang ich öfter als Madonna.“ Anders als Madonna wird Milva 1959 allerdings bei einem Talentwettbewerb entdeckt. Der Durchbruch kommt 1961, beim alljährlich stattfindenden Musikfestival von San Remo, wo sie den dritten Platz belegt.
Popstarsein hindert Milva jedoch nicht, 1965 die LP Canti della libertà aufzunehmen, die sie auch in Mailand live zu den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus vorträgt. Ungefähr zur selben Zeit beginnt sie sich auch für die Werke Bertold Brechts zu interessieren und stellt ein Programm mit Brecht-Recitals zusammen. „Brechts Sprache ist unheimlich direkt und sehr präzise formuliert.“ Milva begegnet dieser sprachlichen Präzision auf italienisch. „Brechts Poesie kennt keine Sprachgrenzen.“ Immer wieder hat Milva die Rolle der Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper gespielt. Dafür erhält sie sogar Lob von Kurt Weills Witwe Lotte Lenya. Es wäre schön, wenn Milva auch in Deutschland mit ihrem Orchester Zähne zeigen würde.
heute, 20 Uhr, Musikhalle
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