piwik no script img

Gregorianische Gesänge

Wirtschaftssenator Gysi hat schon am ersten Arbeitstag mit voller Mannschaft viel zu tun: Ängste in der Wirtschaft abbauen, ABM-Mittel sichern, Arbeitsplätze retten und die Verwaltung umkrempeln

von RICHARD ROTHER

Mit Gregor Gysi ziehen auch ostdeutsche Sitten in das altehrwürdige Gebäude der Wirtschaftsverwaltung im tiefsten Schöneberg ein: Zur Begrüßung der neuen Staatssekretäre sprudelte gestern prickelnder Rotkäppchen-Sekt – vermutlich zur Stärkung regionaler Wirtschaftsstrukturen, die sich die PDS immer auf die Fahne geschrieben hat. Ansonsten hatte sich im Amtszimmer mit dem schönen Blick auf den Park, in dem zuvor Juliane Freifrau von Friesen und Wolfgang Branoner gesessen hatten, wenig geändert: Auch unter einem roten Senator dürfen Deutschland- und Berlinflagge ebenso wenig fehlen wie ein Videogerät für Präsentationen. Auch die Gesichter der Bodyguards kommen einem irgendwie bekannt vor.

Gysis erster Arbeitstag mit voller Mannschaft besteht allerdings nicht aus der betont höflichen Verabschiedung der alten Staatssekretäre beim Sektempfang: Die neuen werden charmant dem Hause, aus dem manch skeptischer Blick dringt, und der Öffentlichkeit vorgestellt. Mit dem ehemaligen IHK-Funktionär Volkmar Strauch (SPD) hat sich Gysi einen ausgewiesenen Mann der Wirtschaft ins Haus geholt, und die HU-Professorin Hildegard Maria Nickel (parteilos) ist nicht nur in der Wissenschaftsszene bekannt, die Soziologin gilt auch als ausgewiesene Kennerin von Frauen- und Arbeitsmarktfragen, insbesondere für Ostdeutschland. Immerhin ist die Kofinanzierung der derzeit auf Eis liegenden ABM-Stellen schon auf den Weg gebracht; das hat Gysi noch für Nickel erledigt. Gysi: „Es bringt nichts, wenn wir erst im Juni mit den Maßnahmen anfangen.“

Überhaupt merkt man Gysi nicht an, dass er eigentlich Kultursenator werden wollte. Er spult professionell die bekannten wirtschaftspolitischen Argumentationen ab. Zum Beispiel: Berlin müsse mehr Unternehmen anlocken, diese brächten mehr Arbeitsplätze, was wiederum die Chancen für Frauen erhöhe. Im Fall des Borsig-Werks, dessen Jobs nach Spanien verlegt werden sollen (siehe unten), bleibt Gysi jedoch realistisch: Borsig sei zwar eine Berliner Tradition, aber er sei „nicht optimistisch“. Und dann kommt doch noch ein klassisches PDS-Argument: „Wir müssen das Steuer- und Lohndumping in Europa verhindern.“

Als Erstes will Gysi aber eines: arbeitsfähig werden und bestehende Ängste in der Wirtschaft abbauen. Es gebe bereits Gesprächsangebote der Verbände und ausländischer Unternehmen, so Gysi. Diese könnten leichter werden als angenommen. Giuseppe Vita, Grandseigneur des Berliner Pharmakonzerns Schering, hat die Linie bereits vorgegeben. Gute Wirtschaftspolitik hänge nicht vom Parteibuch ab, sagte der Aufsichtsratschef eines der wenigen Berliner Unternehmen mit Weltbedeutung in einem Interview mit Inforadio. In manch italienischer Region habe eine linke Regierung sogar für mehr Stabilität gesorgt.

Der Wirtschaftsstaatssekretär Volkmar Strauch wird Gysi in seinem Bemühen unterstützen, in der Wirtschaft Fuß zu fassen. „Praktische Politik geht vor Parteipolitik.“ Berührungsängste gegenüber Gysi habe er keine.

Für die innere Struktur der Wirtschaftsverwaltung tritt Strauch bereits mit einem klaren Programm an. „Wenn wir Unternehmen ansiedeln wollen, müssen wir unsere Kräfte bündeln.“ Nötig sei ein Koordinierungsgremium mit Entscheidungsgewalt. Bisher hätten potenzielle Investoren zu viele Stellen anlaufen müssen. Die Frage, ob Gysi mit seinem Charme leichter Investoren anlocken könne als seine Vorgänger, beantwortet Strauch mit einem Lächeln: „Jeder muss seine Stärken ausspielen.“

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen