Eine gute Band ohne Eigenschaften

Wo nichts ist, müssen es Philosophen und Mystiker sein. Oder wenigstens ehrliche Arbeiter am Sound, die sich auf das konzentrieren, was wirklich zählt: Rockmusik. Die amerikanische New-Metal-Band Incubus begann ihre Deutschland-Tournee mit einem Konzert in der Berliner Columbiahalle

Würde man für zeitgenössische amerikanische Rockbands Steckbriefe anfertigen, käme unter der Rubrik „besondere Kennzeichen“ eine große Anzahl unterschiedlichster Merkmale zusammen: Christen, Satanisten, Reaktionäre, Erwecker, Schweineigel, Frauenfeinde, Rassisten, Antirassisten und mehr.

Kaum eine Band, die ihre Musik nicht anreichert in Form einer besonderen Sendung oder eines besonderen Ticks, um im Erfolg versprechenden, aber hart umkämpften Marktsegment Rock/New Metal das entscheidende Plus zu erzielen. Eine der wenigen Ausnahmen in dieser Beziehung stellt die kalifornische Band Incubus dar. Die hält sich auffällig zurück, zu der will einem partout nichts einfallen, außer: Fünf Freunde machen Rockmusik. Für Incubus scheint es nur eins zu geben: Rock und nichts als Rock, ohne Style, ohne Attitüde, ohne besondere Verweise. Eine Band ohne Eigenschaften, aber eine gute. Man kann sagen, sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich durch nichts auszeichnet.

Wahrscheinlich war es diese Eigenschaftslosigkeit, die den Berliner Radio- und selbst ernannten Erwachsenensender „Radio Eins“ dazu verleitete, in einer Konzertankündigung von den „Philosophen und Mystikern der Band Incubus“ zu sprechen. Wo nichts ist, müssen sie wenigstens Philosophen und Mystiker sein! Blumen, die den angesprochenen Erwachsenen an diesem Sonntagabend jedoch nicht mehr sagen als tausend Worte: In der mit 2.000 Leuten anständig gefüllten Berliner Columbiahalle sind es durchweg Anfangzwanzigjährige beiderlei Geschlechts, die sich eingefunden haben. Nachlässig gekleidet, mit Ziegenbärten, weiten Hosen und Turnschuhen, befinden sie sich popsozialisationstechnisch genau an der Schnittstelle von HipHop und New Metal. Ein Zielgruppenpublikum, das Incubus in den letzten zwei, drei Jahren für sich entdeckt hat.

Die Band aber gibt es schon seit 1991. Damals galt sie als okaye, aber nicht weiter auffällige Kopie von Bands wie Red Hot Chili Peppers und Faith No More, die eine solide Crossoverplatte nach der anderen produzierte. Incubus war eine Band unter vielen, die nur deshalb nicht von ihrer Plattenfirma aus ihrem Vertrag entlassen wurde, weil sie eben den Sound zur Zeit spielte. Erst mit dem 99er-Album „Make yourself“ sollte sich das ändern. Auf diesem bewegten sich Incubus erstmals weg vom Haudraufcrossover zu ausgereifteren Songstrukturen, und auf diesem befand sich eine Ballade namens „Drive“, die gemächlich, aber zielstrebig ihre Kreise zog, mit einjähriger Verspätung noch einmal als Single ausgekoppelt wurde und schließlich per Video in die Dauerrotation von MTV kam.

Seitdem sind Incubus eine Band zwar immer noch ohne Eigenschaften, aber mit Zukunft, die sich drei Monate auf Kosten ihrer Plattenfirma ein Haus mieten darf, um in Ruhe ein neues Album aufzunehmen. Diesem „The Morning View“ betitelten hört man die viele Zeit und seine aufwändige Produktion auch an: mit viel Weite, Hall und Nachhall eingespielt, mit Streichern hier, Froschlauten dort und mit vielen anderen technischen Finessen. Perfekt, designt und zugenäht. New Metal steht der Vereinfachung halber zwar immer noch in Klammern dahinter, doch eigentlich ist das Rock, großer Rock. Der Traum jedes A & R-Mannes und jedes Produzenten und eigentlich Musik für die ganze Familie und den Rolling-Stone-Leser.

Bei ihrem Konzert gibt sich die Band viel Mühe, diesen angemessen zu performen. Ein DJ sorgt für die richtige Programmierung, Schlagzeug, Bass und Gitarre für die Feinarbeit, und Sänger Brandon Boyd für ein Minimum an musikfremder Identifikationsfläche. Boyd ist es, auf den sich das Publikum konzentriert. Ein All-American Boy und handelsüblicher Mädchenschwarm, der auch aus Wattenscheid stammen könnte. Boyd sieht gut aus, trägt halblange, lockige Haare, hat einen makellosen Oberkörper und wirkt wie eine Mischung aus Peter Frampton und Mark Wahlberg. Er singt „I Wish You Were Here“ oder „Whatever tomorrow brings, I’ll be there with open arms und open eyes“, und alle singen mit. Vielleicht ist er es ja, wegen dem alle gekommen sind, vielleicht ist er das besondere Merkmal. Er philosophiert über die Liebe und ihre Untiefen (Philosoph passt immer!), macht sich lustig über die Haarpracht seines Gitarristen (welch Mystiker!), und er fordert sein Publikum dazu auf, die Boys und Girls, wie er sie nennt, mächtig viel Spaß mit Incubus zu haben.

Trotz der üblichen Soundprobleme bei Konzerten dieser Größenordnung hat es das auch – bei den Stücken, die problemlos als New Metal durchgehen. Und bei den schönen Balladen wie „Mexican“ und eben „Drive“, bei denen Boyd mit seinem Gitarristen lässig auf zwei Schemeln sitzend auf MTV-Unplugged-Star macht.

Incubus erweisen sich an diesem Abend als genau die Band, die die Summe aus allem ist, was sie nicht ist: Sie taugt zu keinem Diskurs und passt insofern weder in Musikmagazine mit Anspruch noch in die Feuilletons; sie plündert nicht die Asservatenkammer des Rock, um die vergangenen Jahrzehnte von den Fünfzigern bis zu den Achtzigern zu durchstreifen; sie macht nicht explizit Musik für Modernisierungsverlierer wie die Kollegen von Limp Bizkit bis Korn.

Incubus sind nowtro bis in die letzte, kaputte Gitarrensaite. Ehrliche Arbeiter am Sound und an sich, eine Band, die immer besser werden will, Punkt. Eine Band, die gut damit fährt, zwischen New Metal und Grunge à la Pearl Jam ihren Platz gefunden zu haben. Wenn da jemand von Kurt Cobain spricht, hätte sie nichts dagegen – doch spielte der nicht in einer gänzlich anderen Zeit. „Are You In?“, fragt Boyd am Ende sein Publikum, das hundertfach mit „Ja“ anwortet. Und dann spielen Incubus weiter und weiter und weiter. GERRIT BARTELS

Weitere Konzerte: 29. 1. Hamburg, 30. 1. Köln, 31. 1 München