Kein Eisberg in Sicht

Angestaubte Erinnerung: „Der Untergang der Titanic“ im Berliner Ensemble. Vor zwanzig Jahren hatte Georg Tabori die Komödie in Gesängen von Hans Magnus Enzensberger schon einmal inszeniert. Heute kokettiert das Stück mit dem Gestus der Erinnerung, der Imaginationsraum aber bleibt schmal

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Wer ist Dante? Spielt er heute Abend mit? Was hat er zu suchen auf der Titanic? Die vorne auf der Bühne sind sich nicht einig. „Das ist ein Mann, der von Dante träumt“, schlagen sie versuchsweise vor, oder: „Das ist ein Mann, den aller außer Dante für Dante halten.“ Einer müsste es eigentlich wissen, der Dichter, der ein wenig abgerückt von seinen Figuren am Rand der Bühne sitzt und noch dazu vom Dramaturgen des Theaters, Hermann Beil, gespielt wird. Aber gerade er treibt das Verwirrspiel am furiosesten: „Das ist ein Mann, den alle für Dante halten, nur er selber glaubt nicht daran.“

Je weniger man weiß, desto mehr lacht das Publikum. Dante führte durch die Kreise der Hölle und des Paradieses und schuf damit dem Wissen, der Macht und dem Imaginären seiner Zeit eine Landschaft. Jahrhunderte später schlüpfte Hans Magnus Enzensberger in die Rolle des Reiseleiters, der in dreiunddreißig Gesängen eine Erinnerungsreise zum „Untergang der Titanic“ unternimmt und dabei historische Utopien und Niederlagen des zwanzigsten Jahrhunderts durchquert.

Doch anders als Dante kann er aus den Lehren der Geschichte keine eindeutige Maxime des Handelns mehr ableiten. Was alle vom Dichter erwarten, ein besonders intimes Verhältnis zur Wahrheit zu unterhalten, er „selber glaubt nicht daran“. Doch kaum dass niemand mehr ihm diesen Status zubilligen will, spürt er die Berufung wieder. Und so bestimmt der Dichter seine Rolle zwischen Projektionen, Erwartung, Aneignung und Abgrenzung immer wieder aufs Neue.

Das Gedicht über Dante gehörte zu den Glanznummern der Premiere vom „Untergang der Titanic“, von George Tabori am Berliner Ensemble eingerichtet. Bestechend trägt Margarita Broich eine Verlustanzeige vor – „einen Backenzahn, zwei Weltkriege, drei Kilo Übergewicht“ –, die ungeheuer leichtfüßig zwischen der privaten Befindlichkeit einer angestrengten, aber doch das Ganze noch eben im Blick behaltenden Frau und der depressiven Mentalität eines Staates tänzelt. Ursula Höpfner, Carmen-Maja Antoni, Matthias Benner: Auf kurzen Strecken bringen sie die Sprache zum Funkeln, den Geist zum Fliegen.

Vor mehr als zwanzig Jahren, 1980, hatte Tabori mit der essayistischen Komödie großen Erfolg eingeheimst. Damals dampfte der Geist noch, aus dem das Stück entstanden war. Daran anzuknüpfen gelingt ihm nicht. Die Gesänge zerfallen in Nummern, mit prächtigen Einschüben zwar, aber ohne großen Bogen. Der Raum der Imagination bleibt schmal wie das Bühnenbild vor dem eisernen Vorhang. Lauter als das unheimliche Geräusch, mit dem der Eisberg den Stahl des Schiffes aufschlitzt, hört man das Knarzen der Sessel im Theater, auf den die Zuschauer ungeduldig hin- und herrutschen. Die Schauspieler halten sich an den Blättern der szenischen Lesung fest, als drohe ihnen das Textgebäude sonst zu entgleiten.

Wie Gespenster sitzen sie am Bühnenrand, ein wenig kalkig im Gesicht; vielleicht weil es Tote sind, die zu uns reden. Zu wenig öffnen sich die ineinander verschachtelten Räume der Geschichte. So ist das Ganze nostalgisch eingefärbt, als ob Tabori mehr nicht gewollt hätte, als einige Seiten aus dem Album seiner schönsten Inszenierungen wieder zu beleben.

Das rührt, aber reicht nicht. Die Resignation des Regisseurs legt sich wie Staub auf die Komödie, die selbst mit dem Gestus der Erinnerung kokettiert. Denn der Text, der in den Reflektionen des Erzählers auch den Zeitraum zwischen Cuba 1969, wo Enzensberger die Arbeit an dem Versepos begann, und Berlin 1977 durchmisst, funktioniert wie eine Puppe in der Puppe. Ironisch spielen die Textwendungen ständig mit einer verlorenen Fassung, die noch von revolutionärer Begeisterung durchglüht im Schiffsuntergang vor allem ein Klassenkampfdrama sah. Doch so wie der Glaube an die technische Machbarkeit des Fortschritts mit der Titanic unterging, blieb die Hoffnung auf die politische Machbarkeit der Revolution in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der späten Siebzigerjahre stecken. „Kein Eisberg in Sicht“, seufzt der Dichter bei seinem Blick aus dem Fenster in die dunkle Berliner Nacht, die nur kalt und feucht ist, alles Erhabene der Katastrophe aber vermissen lässt.

Wie sich diese ungestillte Sehnsucht, als Protagonist am Rad der Geschichte mitzudrehen, seitdem in einen Frust verwandelt hat, gegen den mit allen Mitteln des Kapitalismus anzugehen als durchaus legitim gilt, spielt in dieser Inszenierung keine Rolle. Dabei stecken die Gesänge voller Angebote, die Karriere, die die Lust an der Katastrophe und das Gewerbe der Prophezeiung in der Unterhaltungsindustrie und den Medien gemacht haben, aufzugreifen. Die Ankündigung der Katastrophe ist nicht allein aus der politischen Rhetorik kaum mehr wegzudenken, sondern auch nicht als Ware auf dem Markt der Informationen. Die Schraube hat sich weitergedreht in der Zeit seit der Textentstehung. Von der Schizophrenie, dass sich ernst meinende Analyse kaum vom Handel mit dem Spektakulären mehr trennen lässt, sind wir Ende letzten Jahres wieder schwer in die Zange genommen worden. Liest man den „Untergang der Titanic“ jetzt noch einmal, wundert man sich über die präzise und knappe Beschreibung der Gewinner aus den Szenarien der Zerstörung.

Der Untergang „läuft im Fernsehen gleich nach der Sportschau. Er ist unbezahlbar. (…) Er ist Kunst. Er schafft Arbeitsplätze. Er geht uns allmählich auf die Nerven.“ Doch auf die Erfahrung der Gegenwart reagiert Taboris Inszenierung höchstens mit der Müdigkeit dessen, der alles nur noch als Wiederholung erlebt.

„Aber das Dinner geht weiter, der Text geht weiter, die Möwen folgen dem Schiff bis zum Ende. Hören wir endlich auf, mit dem Ende zu rechnen. Wer glaubt schon daran, dass er dran glauben muss.“ Es ist dieser Zweifel am Sinn der Erkenntnis, der Enzensberger nun mal von Dante trennt.

„Der Untergang der Titanic“, 5. Februar, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1