Demut vor dem Wahn

Der Ursprung der Stimmen: Mit seinem Film „Das weiße Rauschen“ erzählt Hans Weingartner die Geschichte eines jungen Schizophreniekranken. Ein Porträt des Hauptdarstellers Daniel Brühl

„Es war nie so, dass ich drohte verrückt zu werden, aber ich ließ diese Ängste zu“

von THOMAS WINKLER

Daniel Brühl schläft. Er hat ein paar Promille zu verarbeiten. Am Abend zuvor wurde an einem Strand im Baskenland das Ende der Dreharbeiten von „Das weiße Rauschen“ gefeiert und nun schläft er endlich, der Hauptdarsteller. Fünf Uhr morgens rüttelt jemand an seinem Schlafsack. „Und wer steht da?“, fragt Brühl noch heute ein wenig ungläubig. Es ist Regisseur Hans Weingartner. „Natürlich mit gezückter Kamera.“ Brühl und Weingartner waren losgezogen nach Spanien nur mit Digitalkamera und einem Bus voller sich selbst spielender Hippies, um die letzten Sequenzen des Films zu drehen. Tagelang hat Weingartner improvisieren lassen, leben lassen, ist in die Intimsphäre der Gruppe eingedrungen und hat immer draufgehalten, als würde er ein Urlaubsvideo drehen und keinen Kinofilm.

Diesmal aber sagt Brühl Nein. Nein, ich schlafe jetzt noch vier Stunden, dann steige ich in den Zug und es ist zu Ende. Aber, sagt Weingartner breit und österreichisch, der Sonnenaufgang sieht super aus, der muss in den Film, komm. „Ich war knapp davor“, erzählt Brühl, „den im Meer zu ersäufen. Das war der Horror. Aber ich habe es natürlich trotzdem gemacht.“

Es war die letzte Auseinandersetzung zwischen den beiden. Es war nicht die erste. Der Konflikt war vorprogrammiert, bereits angelegt in der Arbeitsweise, die Weingartner für seinen ersten langen Spielfilm für die einzig denkbare hielt. Der in Köln lebende österreichische Regisseur, Exskilehrer, Exkanuführer und Absolvent eines Studiums der Gehirnforschung, erzählt in „Das weiße Rauschen“ die Geschichte von Lukas, der nach dem Abitur in die große Stadt kommt. Erzählt vor allem aber die Geschichte seiner Schizophrenie und der Hilflosigkeit seiner Umgebung. Erzählt von den ersten sanften Brüchen in der Normalität, den Angstzuständen, den Stimmen im Kopf, der alles beherrschenden Paranoia, erzählt von Selbstmordversuchen, Therapieversuchen, Tabletten. Und er erzählt, wie Lukas am Ende der Odyssee durch seinen Kopf nach Spanien gelangt an den Strand und dort das weiße Rauschen findet, jenen perfekten Zustand, der sinnbildlich für den Wahnsinn stehen kann oder auch für das atmosphärische Knistern einer leer geräumten Festplatte, für einen Neuanfang.

Die Dreharbeiten fanden oft in der Öffentlichkeit statt, Passanten wurden ohne ihr Wissen eingebunden, manchmal war die Kamera in einem Rucksack versteckt. Immer wieder hat sich Weingartner nur mit Brühl und der Kamera zusammen eingeschlossen. Dank der einfach zu handhabenden Digitaltechnik, ohne Sorge um Beleuchtung, Ton und Tiefenschärfe entstanden so die Szenen, in denen Lukas sich auf die Suche nach dem Ursprung der Stimmen macht. Er beginnt Löcher in die Wände zu schlagen, befiehlt den Stimmen zu verstummen, tobt, schreit und kommt dem Wahnsinn stückchenweise näher. „Es war nie so, dass ich drohte selbst verrückt zu werden“, erzählt Brühl, „aber ich habe diese Ängste schon zugelassen, sonst kannst du diese Psychosen gar nicht spielen.“

Mehr als 100 Stunden Material entstanden so, die Weingartner in acht langen Monaten im Schneideraum zu „Das weiße Rauschen“ werden ließ. Dafür hat er Preise gewonnen. Er hat sie verdient dafür, sich einer solchen Krankheit filmisch zu nähern wie kaum jemand zuvor, ohne jemals in Versuchung zu geraten, sein Thema und die Ernsthaftigkeit, die es verlangt, für das filmische Spektakel zu opfern. Viel zu verdanken hat er seinem Hauptdarsteller. Der erst 23 Jahre alte Brühl lässt Lukas in Sekunden die verschiedensten Seelenzustände glaubhaft durchlaufen. Vorbereitet auf die Rolle hat sich Brühl zusammen mit Weingartner und einem Schizophreniepatienten, der vor Brühl für die Rolle vorgesehen war, in den österreichischen Bergen. Und im heimatlichen Köln. In Supermärkten. Dort hat sich Brühl neben ahnungslose Kunden gestellt, sie mit strengen Blicken fixiert oder auch verfolgt. „Die Leute werden ganz schnell unsicher“, sagt er und muss lachen, „man kann leicht aus der Reihe tanzen.“ Allen seinen Rollen, auch dem Abiturienten in der Coming-of-Age-Geschichte „Nichts bereuen“, mit der er zuletzt im Kino zu sehen war, scheint diese latente Bedrohlichkeit innezuwohnen, die allerdings erstmals in „Das weiße Rauschen“ wirklich zum Ausdruck kommt. Möglicherweise sind es ja nur die Augenbrauen, vermutet Brühl selbst. Die stehen sehr nah zusammen, werden für eine Rolle schon auch mal gezupft und geben seinem Blick auch in glücklichen Momenten etwas Unstetes, als würden sie etwas besser unerklärt Bleibendes verbergen. Lukas allerdings ist die Rolle, so Brühl, die bislang am weitesten vom echten Daniel entfernt sei. Gibt dann aber zu, dass es „viele Leute gibt, die Ähnlichkeiten sehen, weil ich ab und zu, wenn ich lustig sein will oder einfach mal anders, in eine solche Rolle verfalle.“

„Das weiße Rauschen“ ist nach „Nichts bereuen“ Brühls zweiter Film in kurzer Zeit. Gerade lief beim Max-Ophüls-Festival „Elefantenherz“ von Züli Aladag, in dem er einen jungen Boxer spielt, der sich von seinem alkoholkranken Vater lossagt. Kurz vor dem Interview erst hat Brühl „Good Bye, Lenin“, den neuen Film von Wolfgang Becker, abgedreht. In dieser Tragikomödie gibt er den Sohn einer strammen Sozialistin, die im Koma die Wiedervereinigung verpasst hat und nun von Brühl im Glauben gelassen wird, die DDR existiere noch.

Da könnte sich schnell eine gewisse Sättigung einstellen, vermutet Brühl, weshalb er auch eine Pause einlegen und eine Zeit lang keinen neuen Film mehr drehen will. Lange genug im Geschäft ist er schließlich: Mit acht Jahren begann er Hörspiele zu sprechen für seinen Onkel, einen Hörspielregisseur, später kamen die ersten Theater- und TV-Rollen. Er war schlau genug, sein Engagement als Soap-Held in „Verbotene Liebe“ nicht über die erste Staffel hinaus zu verlängern. Beraten wird er von seinem Vater, einem lang gedienten Dokumentarfilmer.

Geboren in Barcelona, zweisprachig aufgewachsen, träumt Brühl davon, eines Tages auch in der Heimat seiner Mutter drehen zu können. Dazu will und wollte er noch nie eine der hiesigen Schauspielschulen besuchen, denn da warten nur „Dozenten, die es oft selber nicht gepackt haben“. Wahrscheinlich ist es dieses leicht überhebliche Selbstbewusstsein, das es braucht, um zum momentan aufregendsten Darsteller seiner Generation zu werden. Und Demut im Umgang mit den Figuren. Auch sein Lukas könne nur „eine Annäherung“ sein, sagt Brühl.

Am Ende von „Das weiße Rauschen“ sitzt dieser Lukas verknittert an einem spanischen Strand, den Blick gerichtet in einen verwaschenen Sonnenaufgang. Das Ende aller Hoffnung kann das bedeuten, die Hoffnung auf einen Neubeginn, den Beginn einer neuen Bedrohung. Es ist das Bild, das Weingartner fotografierte an jenem Morgen in Spanien, kurz nachdem ihn Daniel Brühl noch hatte ersäufen wollen. Es ist alles drin in diesem Bild.

„Das weiße Rauschen“, Regie: Hans Weingärtner. Mit Daniel Brühl, Anabelle Lachatte u. .a. Deutschland 2001,104 Minuten