: „Diese Musik repräsentiert uns“
Der ganze Stolz von Puerto Rico: Der Salsasänger Marc Anthony über seine zweite Karriere als Popstar, die ständige Erneuerung des Genres und die Gründe, warum Salsa für eine neue Latinogeneration wieder cool werden konnte
Interview MICHAEL TSCHERNEK
taz: Herr Anthony, im Zusammenhang mit Ihnen, Jennifer Lopez, Ricky Martin und Enrique Iglesias war in den letzten Jahren viel von einer regelrechten Latinwelle die Rede …
Marc Anthony: Ja, aber das ist Blödsinn. Es gab einfach zufällig vier Latinos, die zeitgleich ihre Platten auf den Markt gebracht haben. Und da haben sich die Plattenfirmen diese süße, griffige Verkaufsformel ausgedacht und uns alle unter diesen dämlichen Sprüchen begraben.
Im Grunde ist das eine Beleidigung. Man muss schon ein Latino sein, um zu verstehen, wie verletzend das war. All diese Alben, die Sie gerade aufgezählt haben, haben nichts mit Latinmusic zu tun. Mit solchen Sprüchen bekommt die ganze Welt ein vollkommen falsches Bild von Latinmusic vermittelt.
Vor Ihrem Poperfolg waren Sie als Salsasänger bekannt, Ihnen wird ein großer Einfluss auf die Wiederbelebung der Szene in den 90ern zugeschrieben. Warum, glauben Sie?
In den 80ern war Salsa ziemlich tot, die Szene schien vollkommen ausgetrocknet zu sein. Ich habe mich von Anfang an darauf konzentriert, die Standards unter verschiedenen Gesichtspunkten zu verändern.
Sie sind selbst ja eher ein Salsa-Seiteneinsteiger, oder?
Ursprünglich hatte ich keine Beziehung zu traditionellem Salsa. Ich bin in den 70ern mit Marvin Gaye, Gladys Knight und Paul Simon aufgewachsen. An Salsa hatte ich damals kein Interesse: Das war die Musik unserer Eltern – das war alte, uncoole Musik.
Ihr Vater war ja auch Musiker …
Das stimmt. Er war ein Troubadour und Schnulzensänger: Er hat in erster Linie Boleros geschrieben und ist mit seiner Gitarre aufgetreten.
Wurde in Ihrer Familie Spanisch gesprochen?
Meine Eltern sprachen untereinander Spanisch, und auch wir Kinder mussten Spanisch sprechen. Mein Vater hatte die Regel aufgestellt: Er sprach zu uns in Englisch, und wir mussten ihm auf Spanisch antworten. Damit wollte er uns immer verdeutlichen, dass wir Teil von etwas Besonderem sind. Heute bin ich froh darüber.
Und wann haben Sie die Salsamusik für sich entdeckt?
Salsa ist ganz natürlich zu mir gekommen, eher durch Zufall (lacht). Ich habe Anfang der 90er mit Little Louie Vega an einem Dancealbum gearbeitet und befand mich mit ihm und seiner Schwester in New York in einem Verkehrsstau, als sie den Song „Hasta Que Te Conoci“ von Juan Gabriel abspielte. Für mich sind in dem Moment die Lichter angegangen, und mir war aus irgendeinem Grunde sofort klar, dass ich diesen Song singen musste. Ich habe mit meinem Manager Kontakt aufgenommen, der mir geraten hat, den Song als Salsasong aufzunehmen. Und mir war alles recht: Ich wollte nur unbedingt diesen Song aufnehmen.
Traditionalisten haben sich beklagt, dass Sie mit Ihren am Soul geschulten Gesang die strikten Regeln der Phrasierung beim Salsa verletzen …
Da kann ich nur sagen: Musik verändert sich. Als in den späten 60ern, frühen 70ern der Boogaloo aufkam, verstand man das nicht als Latinmusic, sondern als eine Musik der Straße. Heute ist es eine Musikrichtung, die von Puristen verteidigt wird. Deswegen wurden dann die Fania-Allstars anfangs abgelehnt: „Das ist doch kein richtiger Boogaloo!“
Selbst meine frühere Plattenfirma hat mich zu Beginn mit klassischen Salsa-Alben zugeschüttet: „Hör dir das an! Lern das!“ Aber das kam für mich nicht in Frage. Was hätte ich auch davon gehabt, die Fania-Allstars Note für Note zu kopieren? Dann hätte ich vielleicht nur eine Handvoll Platten verkauft. So aber gibt es jetzt eine ganze neue Generation, die mit Salsa aufwächst. Und nur das zählt für mich.
Denn warum war mein Salsa erfolgreich? Weil ich mit meiner Musik eine große Gruppe von Menschen angesprochen habe, die sich von einer anderen Musik bis dahin nicht repräsentiert gefühlt haben. Plötzlich war es wieder cool, mit dem Auto durch die Gegend zu fahren und dabei Salsa zu hören. Die Puristen müssen meine Musik ja nicht kaufen. Sollen sie sich doch ihre Fania-Platten anhören und mich in Ruhe lassen.
Hat Sie die Kritik gekränkt?
Am Anfang war diese Ablehnung für mich nur schwer zu schlucken. Aber über die Jahre hat sich die Haltung der Traditionalisten mir gegenüber geändert. Heute räumen sie ein: Wenn jemand die Fahne des Salsa hochhält, dann ist es Marc.
Gerade haben Sie das Salsa-Album „Libre“ veröffentlicht, demnächst folgt Ihr Popalbum „Mended“. Warum halten Sie diese scharfe Trennung zwischen den Stilen aufrecht?
Ich halte nichts von einer Vermengung der Stile. Salsamusik sollte, so wie sie ist, der Welt präsentiert und von der Welt angenommen werden. Sie hat eine hohe kulturelle und soziale Bedeutung für uns, die Gemeinschaft der Latinos. Salsa ist ein Teil von uns, Salsa ist unser Markenzeichen. Wenn ich heute Salsa bringe, dann weiß ich genau, wie er sein muss. Denn ich habe verstanden, welche Bedeutung Salsa für die Leute hat, die ihn geschaffen haben, welche Bedeutung er für mein Volk und für die Weltmusik hat.
Sie treten häufig als Repräsentant der US-Latinos auf, nach dem 11. September wie auch bei anderen Anlässen von nationaler Bedeutung. Was bedeutet Ihnen das?
Eineinhalb Wochen nach dem Anschlag hatte ich einen besonderen Auftritt vor dem Spiel der New York Mets. Baseball ist in New York eine große Sache. Man hatte mich neben Liza Minelli und Diana Ross eingeladen, und ich durfte die Nationalhymne singen. Das hat mir sehr viel bedeutet. Aber ich war auch sehr angespannt und es fiel mir nicht leicht, die Kontrolle zu bewahren. Nach dem Auftritt bin ich zusammengebrochen.
Sie scheinen häufiger von Gefühlen überwältigt zu werden. Es gibt Bilder von Ihnen, auf denen Sie mit Tränen in den Augen auf der Bühne knien …
Normalerweise sind es eher Glücksgefühle, von denen ich überwältigt werde. Und ich erlaube es mir, mich überwältigen zu lassen.
Bei diesem Auftritt im Shea-Stadion habe ich aber aus Schmerz geweint. Ich hatte das Gefühl, Millionen von Leuten Trost spenden zu müssen. Aber ich fühlte mich auch sehr stolz: stolz, ein Amerikaner zu sein, stolz ein New Yorker zu sein, stolz ein Latino zu sein.
Denken Sie, dass George W. Bush angemessen auf die Situation reagiert hat?
Ich spreche nie über Politik. Ich habe meine Meinung, und es gab auch einen bestimmten Kandidaten, den ich bei der letzten Präsidentschaftswahl unterstützt habe. Aber das ist privat.
Hat sich Ihr Publikum durch Ihren Poperfolg geändert?
Früher bestand mein Publikum zu 95 Prozent aus Latinos, die wie ich zweisprachig aufgewachsen sind. Heute dagegen setzt sich mein Publikum aus allen nur denkbaren sozialen Schichten und demografischen Bereichen zusammen: Frauen und Männer, weiß und schwarz, Latinos natürlich, Asiaten.
Die Latinos sind Ihnen also treu geblieben?
Latinos sind im Allgemeinen absolut loyale Menschen, sie jagen nicht immer der heißesten Sache des Augenblicks hinterher. Und für viele Leute bin ich bereits seit zehn Jahren gegenwärtig – seitdem ich begann, mit Salsa Erfolg zu haben. Ich bekomme andauernd Briefe und E-Mails, in denen sie erklären, dass sie mit meiner Musik aufgewachsen sind. Die sind vielleicht 22 oder 23 Jahre alt. Das heißt, dass sie mit 13 oder 14 Jahren angefangen haben, meine Musik zu hören.
Sind Sie ein Frauenschwarm?
Dieses Thema macht mich immer etwas verlegen. Und ich muss auch sagen: Einige meiner eifrigsten Fans sind Männer. Männer, die bei meinen Auftritten weinen.
Ein weiblicher Fan ist einmal während eines Konzerts auf die Bühne gesprungen und hat Ihnen in die Backe gebissen …
Ja, das war wirklich sehr schmerzhaft. Ich bin schon sehr häufig auf der Bühne von Fans verletzt worden, aber das war wirklich außergewöhnlich: Sie hatte sich festgebissen und wollte einfach nicht mehr loslassen. Die Sicherheitsleute haben versucht, sie von mir wegziehen. Aber je stärker sie gezogen haben, desto fester hat sie zugebissen.
Der Gipfel ist aber, dass sie jedes Mal, wenn ich auf meinen Tourneen in ihre Stadt komme, wieder im Publikum ist und ein Transparent hochhält: „Kannst du dich an mich erinnern? Ich bin diejenige, die dir ins Gesicht gebissen hat.“ Sie streut auch noch Salz in die Wunde (lacht).
Ihre Eltern leben heute wieder auf Puerto Rico. Auch Sie sind nach Ihrer Hochzeit dorthin gezogen, leben nun aber wieder in New York. Warum das?
Ich habe ein Haus und ein großes Aufnahmestudio auf Puerto Rico gekauft. Wir haben immer davon geträumt, in unserem Heimatland zu leben. Aber da ich die ehemalige Miss Universe von Puerto Rico geheiratet habe, ist es für uns nicht ganz unkompliziert, dort zu leben. Sie ist der Stolz von Puerto Rico, und jetzt haben wir einen gemeinsamen Sohn. Da ist die Aufmerksamkeit, die man auf so einer kleinen Insel erregt, einfach zu groß. Zum Teil berichten die Medien dort über uns, als ob wir eine königliche Familie wären. Ich wollte, dass mein Sohn etwas ruhiger aufwachsen kann, und deshalb sind wir an den Rand von New York gezogen.
Sie haben zusammen mit Ruben Blades, einer der Koryphäen des Salsa, in Paul Simons Broadway-Musical „The Capeman“ mitgewirkt. Wie ist Ihr Verhältnis zu ihm?
Wir haben gemeinsam die Hauptfigur gespielt. Ich spielte den jungen Salvador Agron und er den Älteren. Er ist wie ein Bruder oder, vielleicht besser gesagt, Vater für mich. Er ist mein Idol. Er schwebt immer noch über allen.
Beim Publikum ist „The Capeman“ gefloppt und wurde 1998 nach nur 68 Auftritten abgesetzt. Die Kritik beklagte, mit dem Musical würde das Leben eines Mörders glorifiziert …
Für mich war es eine rundum positive Erfahrung. Außerdem halte ich das Musical trotz allem noch immer für eines der besten überhaupt. Großartig geschrieben, unglaublich gute Musik, die auch einer Betrachtung im Detail standhält. Als mir Paul Simon angeboten hat, an der Show teilzunehmen, hatte ich das Gefühl, der glücklichste Mensch auf der Welt zu sein.
Drei Jahre lang habe ich eng mit Paul Simon und meinem Idol Ruben Blades zusammengearbeitet. Ich habe beobachtet, wie sie Entscheidungen treffen und wie sie Songs schreiben. Und wenn ich etwas dabei gelernt habe, dann, dass auch die Meister hin und wieder Zweifel haben. Diese Erkenntnis gibt mir Kraft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen