piwik no script img

In Tarmstedt spielt die Musik – gegen Abschiebung

■ Trotz eindeutiger Rechtslage will man nicht akzeptieren, dass die Libanesen nach elf Jahren verschwinden

Tarmstedt im Teufelsmoor, am frühen Abend. 3.500 Einwohner haben das Gartentor hinter dem Auto geschlossen und machen es sich in ihren Wohnstuben bequem. Aber vor einem Haus, einen Steinwurf vom Rathaus entfernt, ist etwas los: „Freedom“, singt ein Gospelchor im Carport, 150 Menschen hören zu. Seit einer Woche geht das nun schon so. Mit Musik protestieren Bürger aus dem Ort allabendlich gegen das, was ihnen partout nicht einleuchten will: Die Saados, die in dem weiß getünchten Bauernhaus von 1868 wohnen, sollen in die Türkei abgeschoben werden.

Vor dem Bürgerkrieg im Libanon waren sie, wie viele staatenlose Kurden, in die Osttürkei geflohen. Als sich der Kurdenkonflikt dort zuspitzte, suchte die Familie 1988 in Deutschland politisches Asyl – vergeblich. Um einer Abschiebung zu entgehen, beantragten sie 1991 unter falschen Namen erneut Asyl und zogen nach Tarmstedt. Vor eineinhalb Jahren flog der Betrug durch Ermittlungen der Behörden auf. Seitdem sind die Saados für die Rotenburger Ausländerbehörde die türkische Familie „Simsek“. Am 14. Februar sollten sie in die Türkei abgeschoben werden, die Tickets waren schon bestellt.

Für einige Tarmstedter war das der Anlass, aktiv zu werden. 25 Leute gründeten die Bürgerinitiative „Kinder haften nicht für ihre Eltern“, die unter Hochdruck den Protest organisiert. „Es ist doch nicht einzusehen, dass die Kinder die Fehler ihrer Eltern ausbaden sollen“, sagt Martin Schürenberg, tagsüber Physiker und abends Sprecher der Initiative. Bis vor drei Wochen hatte er nichts mit Flüchtlingen zu tun. Heute jongliert er souverän mit Worten wie „Duldung“, „Aufenthaltserlaubnis“ und eben auch „Asylbetrug“: „Wir wollen gar nicht so tun, als sei hier kein Unrecht geschehen“, sagt er. Dennoch zählt er sich zu den Freunden der Familie Saado.

Zum abendlichen Musizieren vor dem Haus der Saados hat die Initiative mit 500 Plakaten eingeladen, auf denen jeweils ein Familienmitglied vorgestellt wurde. Fürs Plakatieren gab es beim Tarmstedter Gemeinderat eine Sondernutzungsgenehmigung für zehn Euro. Eine Befassung mit der Abschiebung von immerhin 0,4 Prozent der Einwohner lehnte der Rat aber ab: nicht zuständig.

Am Mittwochabend läuft die Veranstaltung etwas aus dem Ruder, denn es gibt eine gute Nachricht: Der Abschiebetermin ist zunächst ausgesetzt. Die Initiative hat eine Petition an den niedersächsischen Landtag gerichtet, der Familie aus humanitären Gründen Bleiberecht zu gewähren. Das Innenministerium sieht zwar keinen rechtlichen Spielraum dafür, aber die Petition hat aufschiebende Wirkung. Die UnterstützerInnen sehen in dem Aufschub einen ersten Erfolg. Die Abendmusik wollen sie erstmal einstellen. Deshalb wollen Kirchenband, Gospel-Sänger und auch eine Trommelgruppe unbedingt heute Abend noch drankommen.

Und wenn sie nicht bleiben dürfen? Die Initiative strickt nebenbei an Plan B: Wenn es doch zur Abschiebung kommt, wollen sie der Familie mit Patenschaften Starthilfe in der Türkei leisten. Doch die Saados können darüber einfach nicht nachdenken. „Türkisch kann keiner von uns“, sagt der 16-jährige Ömer, einziger Sohn der Familie. Seine Schwester Muna, 21, Mutter von zwei Töchtern, bricht in Tränen aus: „Eher bringe ich mich um.“ Wer, so ihre Sorge, kümmert sich um die Gräber des Vaters und des ältesten Bruders in Bremen?

Jan Kahlcke

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen