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Bauchtanz im Dreieck

Ist der Ruf erst ruiniert: In „Satin Rouge“ (Forum) lässt die Regisseurin Raja Amari eine brave tunesische Mutter und Hausfrau auf moralischen Schleuderkurs geraten

Lilia lebt unter der Decke einer stark kodifizierten Moral, die sich um das Wohlergehen jenseits von Ehre wenig kümmert. Die Tugendkontrolle wird informell durch die Verwandtschaft ihres verstorbenen Mannes, die Nachbarn, Freundinnen und ihre Rolle als Mutter einer pubertierenden Tochter ausgeübt. Weil sie es nicht anders kennt, führt sie das tadellose, aber fade Leben einer kleinbürgerlichen Witwe, die die Sorge um ihre Tochter Salma unterfordert und die höchstens vor dem Fernseher etwas Vergnügen findet.

Das traditionelle moralische Raster ist aber auch in einer islamisch geprägten Gesellschaft wie der tunesischen nicht mehr völlig intakt. Salma ist längst in sexuelle Beziehungen getreten und Lilia ahnt, dass ihr die Tochter entgleitet. Als sie erfährt, dass Salma mit dem Musiker Chokri zusammen ist, besucht sie dessen nächtlichen Arbeitsplatz, ein „Cabaret“. Im „Satin Rouge“ kommen die abenteuerlustigen Männer von Tunis zusammen, um üppigen Frauen beim Schütteln der Hüften zuzusehen. Was als erzieherische Maßnahme beginnt, wird für Lilia zu einer Attraktion, die ihr das eigene Defizit vor Augen führt. Die bescheidene Frau freundet sich mit einer der lebenslustigen Frauen an und wird dadurch mehr und mehr absorbiert. Bald begrüßt sie selbst nächtliche Abwesenheiten ihrer Tochter als willkommene Vereinfachung ihrer eigenen Aktivitäten.

Es bleibt nicht beim Voyeurismus. Lilia sehnt sich vielmehr nach den verführerischen Kostümen und den Gratifikationen der Bauchtanzbühne als eine Form von Anerkennung, die auch ihren Körper einbezieht und auf die sie lange verzichten musste. Im Akt der Zuschaustellung vor Männern verwandelt sie sich in ein anderes, volleres Bild von Weiblichkeit. So lautet jedenfalls die Erklärung, die Raja Amari in ihrem Spielfilmdebüt anbietet. Aber auch die Nähe zur Prostitution ist in diesem Milieu höchst real und bedroht Lilias bisherige Existenz. Wie sie ihr Doppelleben einfädelt, genießt und kaschiert, macht zunächst die Spannung des Films aus, dessen distanzierter Gestus sich durch die gutmütig-schläfrige Präsenz von Hiam Abbas noch verstärkt.

Aber nicht entlang eines Ausbruchsszenarios soll die dramatische Linie verlaufen, sondern Amaris Film verkleinert den sozialen Rahmen auf einen Strudel, der sich am Ende auf Mutter, Tochter und Mann konzentriert. Chokri, der bereits in einem tabubesetzten Verhältnis zur Tochter steht, findet auch an der tanzenden Lilia Gefallen und beginnt eine kurze Affäre mit ihr. Er ist daher erstaunt, sie als Mutter seiner künftigen Frau in einem anderen Zusammenhang wiederzutreffen. Was als Gefahr einer moralischen Erosion entwickelt wird, entspannt sich in einer pragmatischen Wendung: Aus dem skandalösen Dreieck wird dann doch wieder eine gesellschaftsfähige Einheit gezimmert.

„Satin Rouge“. Tunesien/Frankreich 2002. Regie: Raja Amari, 89 Min.

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