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Schweine in Röckchen

Großartiger Garneval: Göttingen, wie es stinkt und kracht und schunkelt und …

„Hulle, hulle!“ – „Helau, helau!“ Wenn dieser Wechselruf durch die Göttinger Altstadt fegt, ist es wieder so weit: Die fünfte Jahreszeit ist da, und Prinz Karneval führt sechs tolle Tage das Zepter in der südniedersächsischen Universitätsstadt. Dann besinnt sich das sonst so steife Göttingen, wo die Anmeldung eines Wohnsitzes an die Vorlage der Promotionsurkunde geknüpft ist, auf seine ackerbürgerliche Vergangenheit. Studenten lassen die Kollegmappe zu Hause und kommen mit dem Dreschflegel ins Seminar, Professoren reiten auf einem Ochsen in den Hörsaal, in der Mensa gibt es Saubohnen mit Schweinekartoffeln à la Trog.

Seit einigen Jahren organisieren in der Akademikerhochburg die zünftigen Narren von den Zunftnarren der Narrenzunft Göttingen e.V. in der Arbeitsgemeinschaft Pro Carnevale des Norddeutschen Regionalbunds Humor und Heiterkeit/Niedersächsisches Fastnachtswerk die närrischen Feierlichkeiten h.c. Dass die einst karnevalfreie Kreisstadt es so weit gebracht hat, ist ihrem großen Narrenvater zu verdanken, Prof. Jean Klingelpütz. Närrischer Frohsinn prägt das Leben des gebürtigen Rheinländers, seit er im Alter von zwei Jahren seine Eltern verlor und als Vollwaise im Katholischen Faschingsheim der Kölner Karnevalsschwestern aufwuchs.

Mit drei wurde er erstmals Prinz der Kindergarde und ließ sich auch von den älteren Rivalen, die ihn regelmäßig verdroschen, nie die gute Laune verderben. Als er mit sechzehn in den Narrenrat aufgenommen wurde und sich für die täglichen Sitzungen einen separaten Harnausgang legen lassen musste, tat das seiner Begeisterung ebenso wenig Abbruch wie später die nach einem ausgedehnten Auftritt im Männerballett erforderlich gewordene Geschlechtstransplantation. Als Student der Indogermanischen Dentalwissenschaften kam Klingelpütz in die Diaspora. Seither amtiert der heutige Altsanskritist als Oberzunftmeister der Göttinger Gecken.

Den Auftakt des Faschingsrummels bildete der traditionelle Karnevalstanz der Marktweiber am Donnerstag, der so genannte Elefantenwalzer, bei dem wieder mit großem Helau zahlreiche Verkaufsbuden zusammenbrachen und einige Tanzpartner zu Bruch gingen. Dann stürmten die „wilden Lolas“ Rathaus und Rektorat und inthronisierten das närrische Dreigestirn: Seine Tollität Prinz Karneval Wigmar III. (im Hausberuf Molekularlinguist Dr. habil. Baethge), Seine Deftigkeit den Agrarprofessor (alias Wiss. Ass. Gerwald Hammelbein-Opperwieck) und Ihro Lieblichkeit Fräulein Dr. Gänseliesel (verkörpert von Universitätshausmeister Werner Schorsemann).

Seinen ersten Gipfel erstürmte der Fastnachtstrubel am Sonnabendabend mit der Festsitzung im Audimax, bei der kaum ein Hühnerauge trocken blieb. Vor allem die Kinderfunkenschaumariechengarde „Die kleinen Ferkel“ unter Leitung von Dr. Wiebtrud-Fraukelgard Lüders zur Trulls, das Schweineballett aus Niederprümmeln-Schmattersen sowie Obernarr Klingelpütz selbst, der im etwas zu knappen Röckchen als flotte „Tanzmaus“ auftrumpfte, brachten die Stimmung zum Kochen.

Der Höhepunkt folgte am Rosenmontag mit dem Festumzug. Über 15.000 Motivwagen und Fußgruppen zogen durch die Innenstadt. Unermüdlich warfen die Karnevalisten im Göttinger Narrenkleid – der ein wenig verschmierten Kuhhaut – das spezielle „Göttinger Konfetti“ unters Volk, die traditionell bunt gefärbten Schafköttel. Die Schaulustigen rasten! Wie gewohnt gingen in der Parade zahlreiche Kühe und Schweine unerkannt mit. Seit Montagmittag und noch den ganzen Fastnachtsdienstag wird in den Kneipen und Hörsälen gefeiert. Aschermittwoch, Punkt null Uhr, aber ist der Spuk vorbei. Erstmals nach sechs tollen Tagen waschen sich dann die Narren wieder – bis in einem Jahr erneut die Schreie in Göttingens Gassen erbrüllen: „Hulle, hulle!“ – „Helau, helau!“

PETER KÖHLER

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