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Die Provinz ist in uns

Absurd hochkarätig besetzt: Moises Kaufman hat mit „The Laramie Project“ (Panorama) eine elegante Dokumentation inszeniert, die eigentlich keine ist

Anfang Oktober 1998 macht der 21-jährige Matthew Shepard in einer Billardkneipe in Laramie, Wyoming Bekanntschaft mit zwei gleichaltrigen Männern. Kurze Zeit später verlässt er mit ihnen die Bar. Er steigt zu ihnen ins Auto, das bald stadtauswärts fährt und erst zum Halten kommt, als man sich in der Prärie befindet. Die Männer zerren Shepard aus dem Wagen und binden ihn an einen Zaun. Mit weit ausgebreiteten Armen hängt er schließlich am Holz. Sie ziehen ihm die Schuhe aus und schnüren seine Füße so, dass sie nicht mehr den Boden berührten. Dann schlagen sie auf ihn ein, mit Fäusten, Gewehrkolben und Pistolen. Anschließend fahren sie fort. Shepard lassen sie am Zaun hängend zurück. Etwa 18 Stunden später wird er zufällig entdeckt. Er lebt noch, wird ins Krankenhaus gebracht, erliegt aber wenige Tage später seinen Kopfverletzungen. Die Männer werden kurz darauf gefasst. Als Motiv geben sie an, dass Shepard, der offen schwul war, versucht habe, sie anzufassen. Die verschlafene 30.000-Einwohner-Stadt Laramie, über die man bisher nur Freundliches zu berichten wusste, wird plötzlich über die Grenzen von Wyoming bekannt und erregt auch die Aufmerksamkeit des Regisseurs Moises Kaufman im fernen New York. Ihm kommt die Idee zu einem neuen Theaterstück und schickt die Darsteller seiner Tectonic Theater Companie nach Laramie; sie sollen mit den Einwohnern sprechen, damit Kaufman später aus den O-Tönen das Theaterstück „The Laramie Project“ collagieren kann. Das Stück wird ein Erfolg und Kaufman erhält vom Fernsehsender HBO den Auftrag zum Film.

Dieser Film erzählt nicht nur die Geschichte einer Theatergruppe, die eines Tages nach Laramie kommt und Interviews führt, um an einem Theaterstück zu arbeiten, er ist auch eine eloquente und elegante Dokumentation, die eigentlich gar keine ist. Beim „Laramie Project“ handelt es sich sozusagen um eine nachgestellte Dokumentation; die Dialoge basieren auf Originalaussagen, wurden aber durch die Inszenierung mit professionellen Darstellern zwangsläufig bearbeitet. Die Interviewer wurden von den tatsächlichen Interviewern gespielt, die Interviewten hingegen von einer fast absurd hochkarätigen Schauspielerriege: Steve Buscemi, Christina Ricci, Peter Fonda, Janeane Garofalo und, und, und.

Eine weiterere Hauptdarstellerin ist die Musik. Sie meldet sich jedes Mal, wenn es emotional wird, also fast immer, und zwar gnadenlos, genau wie man es beim amerikanischen Kino fürchtet und schätzt. Was das denn nun schon wieder solle, wollte eine Zuschauerin, die es lieber etwas nüchterner hat, genervt vom anwesenden Regisseur nach der Vorstellung wissen: Solle sie etwa weinen? Vielleicht. Denn etwas Laramie, so die kleine Botschaft des Films, findet man überall auf der Welt, Vorurteile, Doppelmoral und ähnliche Dinge sind nirgends unbekannte Größen. Kein besonders tröstlicher Gedanke.

HARALD PETERS

„The Laramie Project“. Regie: Moises Kaufman. USA 2001, 97 Min.

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