Im Laufschritt durch die Korridore

Russlands Präsident Putin sorgt sich um die Volksgesundheit. Als Ursache für die niedrige Lebenserwartung macht er Unsportlichkeit aus. Nun soll die Bevölkerung spuren. Die Minister gehen medienwirksam mit gutem Beispiel voran

MOSKAU taz ■ Dieses Jahr hat der russische Präsident Wladimir Putin sich verschiedenen zurückgebliebenen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens zugewandt. Im Januar rief er dazu auf, Russlands drei bis fünf Millionen obdachlose Straßenkinder endlich unter Dach und Fach zu bringen. Sein Vorwurf, für diese Gruppe zu wenig getan zu haben, traf vor allem Sozialministerin Walentina Matwijenko.

Sportanlagen schließen

Anfang Februar besann sich Wladimir Putin auf den vernachlässigten Volkssport. Schmerzlich durchzuckt haben muss es dabei den gut trainierten Präsidenten. Er selbst vermag seine Arbeit immer noch so zu organisieren, dass ihm jeden Tag Zeit für Schwimmen und Gymnastik bleibt, öfters auch für das Skifahren oder für Judo. Dagegen sind in den letzten Jahren in den russischen Städten, die sich einst durch ein blühendes Sportleben auszeichneten, zwanzig Prozent aller Sportanlagen verschwunden. Tausende von kleinen und großen staatlichen Vereinen, Schwimmbädern und Sportschulen für Kinder wurden geschlossen. Andere baute man zu vornehmen Fitness-Clubs um, in denen der Monatsbeitrag den Durchschnittslohn eines russischen Bürgers übersteigt.

Mangelnde Sportlichkeit machte Putin nun unter anderem für eine dramatische Verschlechterung der russischen Volksgesundheit verantwortlich. Dabei verschwieg er, dass es auch an Fehl- und Mangelernährung liegen könnte, wenn es um die Gesundheit der Einwohner der Russischen Föderation nicht geade rosig bestellt ist. „Wir haben eine unverzeihlich niedrige Lebenserwartung“, sagte Putin. Und gab damit zu verstehen, dass ein früher Tod so eine Art Sünde ist. Seine Minister rief er auf, dem Volke mit gutem Beispiel voranzusporteln. Erleichtert erkannten die in der Regel ausreichend ernährten Kabinettsmitglieder, dass sie so leichter Pluspunkte sammeln können als mit Maßnahmen für Straßenkinder. Fix ließen sich alle bei Ausübung einer Sportart filmen, am eifrigsten Sozialministerin Matwijenko auf Skiern.

Politexperten weisen inzwischen darufhin, dass der Präsident mit seinen lautstarken Feldzügen gegen Missstände im Leben der Gesellschaft vermutlich versucht, einer gewissen Enttäuschung in der Bevölkerung zur Halbzeit seiner Amtsperiode entgegenzusteuern. Für das Leben des russischen Durchschnittsbürgers haben die zwar langsam, aber doch immerhin voranschreitenden Wirtschaftsreformen der Regierung bisher wenig gebracht. Das wachsende Bruttosozialprodukt wird durch die Inflation wieder aufgefressen, und die Preise für Medikamente sind zu Jahresbeginn dramatisch gestiegen. Mit Sicherheit stark wachsen werden in den nächsten Monaten auch die Gas- und Strompreise – und somit die Warmmieten.

Kollektive Gymnastik

Zwar bekommen jetzt, anders als unter Jelzin, so gut wie alle Pensionäre pünktlich ihre Renten ausgezahlt. Dabei beträgt die Durchschnittsrente aber umgerechnet etwa 51 Euro. Der sehr gesund wirkende Premierminister Kasjanow versicherte Ende Januar, dies liege „über dem Minimalbedarf eines Pensionärs“. Zum Verdruss der Armen kommt der Unmut der Großstädter, denen mit TV-6 ihr unterhaltsamster Fernsehsender genommen wurde. Da passt es gut, dass auf dessen Welle in Moskau jetzt ein Sportkanal ausstrahlt.

Inzwischen hat sich auch der Staatsrat, ein Gremium aus Gouverneuren, mit der Sportfrage befasst. Er empfahl unter anderem, wie in Sowjetzeiten, in den Betrieben eine kollektive Pausengymnastik und so genannte Sporttage einzuführen, gleichsam Schulausflüge für Erwachsene. Ein Zeugnis seines guten Willens dazu legte in den Nachrichten des Fernsehsenders NTW der Chef einer neben dem Petersburger Sommergarten gelegenen Behörde ab. Seine Mitarbeiter hätten schon ein paarmal während ihrer Pausen in dem Park gejoggt, berichtete er (offenbar sind die dortigen Parkwege vom Glatteis geräumt – dieser Tage in Russland sogar bei Bürgersteigen eine Seltenheit). Doch nun werde ein neuer Mangel spürbar: „Um dies zur Regel zu machen, bräuchten wir Duschen neben den Büros. Die Leute mögen nicht den ganzen Tag so verschwitzt am Schreibtisch sitzen.“ Trotzdem kam der Behördenleiter allen Ernstes zu einer positiven Bilanz: „Durch die Korridore unseres Amtes traben meine Mitarbeiter nur noch im Laufschritt.“ BARBARA KERNECK