Die Chat-Show

Politfetische aus den Siebzigerjahren und Sesselreihen ohne Tische: Die neue Berlinale-Leitung lud zum neuen Diskurs-Panel „Framing Reality“

Panel, sowas kannte man auf der Berlinale bisher nur unter dem Namen Pressekonferenz. Mit der neuen Leitung werden nun aber auch neue Diskursstile eingeübt. Im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek hatte also die Berlinale, in Zusammenarbeit mit Bertelsmann und dem Einstein-Forum zu „Framing Reality“ geladen.

Dass Realismus eine vielschichtige Technik ist, darüber waren sich alle Beteiligten im Klaren, selbst so unterschiedliche Figuren wie Harun Farocki, Andres Veiel, Gertrud Koch, Slavoj Žižek und Christopher Roth, die auf dem „Realität und Fiktion“-Panel beisammensaßen. Allerdings ließen hier die Totschlagverweise auf „Big Brother“ und „11. 9.“ auch nicht lange auf sich warten.

Farocki, der sich als Hermeneutiker automatischer Bilder aus Überwachungskameras und Bomben jetzt gern mit dem Aroma obrigkeitlicher Verschwörung umgibt, konterte die Rede von der völligen Sichtbarmachung der Welt durch die Medien mit dem Einwand, dass es eigentlich interessanter sei, was der Öffentlichkeit an Bildern vorenthalten werde. Auch Žižek zog eine Linie zwischen Zeigen und Nichtzeigen und machte das an der Pornografie fest, die „alles“ zeige, dies aber in die Form billigster, unglaubwürdigster Fiktionen stecke.

Christiane Peitz war als Moderatorin sichtlich motiviert, mit den nicht unbedingt optimalen Voraussetzungen souverän umzugehen. Allerdings liefen ihre Versuche, gerade die Filmpraktiker nach den Konsequenzen ihrer Einschätzungen für die eigene Bildproduktion zu befragen oder sie zu Statements über die „Aufgabe des Kinos“ zu bewegen, ins Leere. Wenn man Leute wie Andres Veiel („Black Box BRD“), Christopher Roth („Baader“) und Harun Farocki (Koautor von „Die innere Sicherheit“) in der Runde hat, braucht man sich nicht zu wundern, wenn sie vom immer noch größten deutschen Politfetisch RAF dominiert wird. Wäre der 70er-Terrorismus die einzige zum Film drängende deutsche Realie, dann wäre der Einwurf aus dem Publikum berechtigt gewesen, dass dieses Thema inzwischen völlig depolitisiert sei. Allerdings blieben auch die drängenderen Fragen nach den Implikationen von „Dogma“, dem Realismusgestus einiger jüngerer deutscher Filme und der Bedeutung der 60er-Retro-Filme außen vor.

Žižek war in diesem Zusammenhang der Einzige, der seine Verantwortung als Intellektueller ernst nahm und sich mit seiner lacanistisch geschliffenen Dialektik gegen den allzu eingefahrenen Common Sense stellte: „Die Realität ist so dramatisch, dass wir sie nicht als Realität annehmen können“, oder umgekehrt: „Wahrheit hat die Struktur der Fiktion.“ Aus solchen Formeln hätte immerhin ein brauchbarerer Diskussionsstoff werden können.

Blieben nun schon solche Realitäts- und Repräsentationsfragen unscharf, wurde das Feld auf dem folgenden „High and Low“-Panel in völliger Beliebigkeit beackert. Zwar liegt dieses in die Jahre gekommene Thema auf einem Filmfestival irgendwie nahe, die Redner aber reagierten von vornherein mit Abwehrgesten. Elisabeth Bronfen wollte diese Linie „blurren“. Carlos Saura zeigte sich an Kategorisierung generell desinteressiert und trat für die Freiheit der Kunst ein, während Peter Greenaway sein Selbstverständnis als Provokateur wenigstens mit sicherer Publikumswirksamkeit füllte. Er habe seine Filme, die manche doch sicher als High Art betrachten würden, ja immer großzügig mit dem Obszönen und Niederen ausgestattet.

Wenn zeitweise auch Shakespeare, Verdi und Mapplethorpe ins Spiel gebracht wurden, so war man doch bemüht, den Fokus auf dem Kinofilm zu halten. Der New Yorker Kulturtheoretiker Todd Gitlin lag mit seiner Annahme wohl nicht daneben, dass alle Anwesenden im weitesten Sinn ein Interesse an Kunst hätten, immerhin sei das Filmfestival der Ort einer Resistenz und Sehnsucht nach dem neu Definierten oder Noch-nie-Gesehenen.

Und obwohl die subjektiven Vorlieben, Kanonverletzungen und -erweiterungen, die der High/Low-Idee zu Grunde liegen, von Bewertungs-, Legitimations- und Machtfragen nicht zu trennen sind, wie der Pariser Mediensoziologe Daniel Dayan betonte, entstand doch der Eindruck, es gebe eine Teleologie, die aus einem Low im nächsten Schritt das neue High mache.

Die Hypothek der paarweise kommenden Gemeinplatzthemen wog so schwer, dass mit intellektueller Verausgabung ohnehin nicht wirklich zu rechnen war; immerhin füllte sich so aber die gemütlich-informelle Chat-Show-Rahmung – Sesselreihe ohne Tisch – mit Sinn. Am Ende zeigte sich das Publikum – der Saal hatte sich inzwischen zu zwei Dritteln geleert – vom Thema stärker agitiert als die Gäste auf der Bühne.

Eines hat sich aber doch gezeigt: Von einem Interesse an diskursiver Unterfütterung darf die Berlinale-Leitung von nun an ausgehen. Da könnte es nicht schaden, eine inhaltliche Arbeit aufzunehmen, auf Aktualität zu dringen, die Gästelisten zu verjüngen und an der Präsentationsweise zu feilen.

MANFRED HERMES