bernd müllender über Plagen: Jeder hat jecke Jene
Karneval ist immer und überall – und es sind keine neun Monate mehr bis zur neuen Session
Am Aschermittwoch ist alles vorbei. Unfug, am Aschermittwoch hat längst die Vorbereitung auf das nächste Jahr begonnen. Auf die nächste Session. Und so weit ist der 11. 11. gar nicht mehr entfernt.
So denken Karnevalisten. Immer nach vorn und jedes Jahr gleich. Auf den Bühnen werden die alten Programme analysiert. Erste neue Ideen für 2003 wollen bald ausgekaspert sein; schließlich trifft man sich spätestens gleich nach den Sommerferien wieder. Egal ob im Zotenkarneval („Kontaktanzeige: Junge Frau mit Humor und Pferdeschwanz sucht Partner mit gleichen Eigenschaften“ – tataatataaa!) oder im Alternativkabarett mit politischem Anspruch und tuschfreiem Andersdünken. Kölns Stunk-Ensemble denkt nicht nur während der offiziell närrischen Tage darüber nach, ob man mit dem Erfolgsprojekt einmal gemeinsam in Rente gehen wird. Nächstes Jahr ist 20-Jähriges.
Auch sehr private Lust- und Lustigkeitsbilanzen gilt es zu ziehen. Single C. war in zehn Tagen fünfmal auf der nächtlichen Abfeierparty der fetzigen Aachener Strunxsitzung. Die große Liebe war vielleicht an den anderen Tagen da. Tragisch das, falsches Timing. Der Mitwirkende R. ist am Montagmorgen bis 9 Uhr mit anderen Mitwirkenden in der Garderobe suffselig versackt. „Dann hab ich zu Hause vergessen, Brötchen mitzubringen.“ Rücksichtslos! Keine gute Stimmung daheim! Er ist so nachhaltig groggy, dass er seinem Singhobby noch am Aschermittwochabend nicht nachkommen kann. „Muss erst wieder meinen Rhythmus finden.“ Ohne Rhythmus keine Melodie, logo. Man hat Verständnis.
Ganz besondere Erlebnisse durfte der Autor am närrischen Wochenende selbst erleben – in der Jeckenhochburg Hamburg. Anlass: Die Hochzeitsfeier guter Freunde ausgerechnet Karnevalsamstag – terminlich eine Ohrfeige für jeden Rheinländer. „Die Pappnase kann trotz Faschingszeit zu Hause bleiben“, stand in der Einladung. Provokation? Nein, eine raffinierte Botschaft: Bringt uns die Narretei bitte mit! Pappnasen her! Helft uns aus dem Jammertal!
Gesagt, getan. Mit Freund Detlef aus Kölle geht’s grölend und Konfetti einzeln werfend vor die Festgesellschaft als Eingestirn Hausbacken I. und Zeremonienmeister Labertzuviel. Mit Pappnasen aus Plastik, hochgetürmten Hutkompositionen und den zotigsten Herrenwitzen soll der arme Norden frohsinnstief missioniert werden. Auftrag: so abgrundtief blöd sein, dass sich die Geheirateten für uns schämen und tanzmariechenrot werden. Rache!
Und was passiert? Je dümmlicher und alberner wir werden, desto mehr tobt die Hundertschaft aus mehrheitlich linksliberal-alternativem Menschenvolk. Wenn man vorher vulgärintellektuell sagt: „Karneval ist ein steter Erkenntnisquell des weiten Kosmos geschlechtsspezifischer Unterschiede …“, dann lacht der Saal schallend über die kürzeste Zote der Saison: „Kommt ’ne Frau beim Arzt …“ Tataaa! Hinterher haben sich einige bei uns bedankt, echt herzlich. Es sei so schön lustig gewesen, und überhaupt: mal wieder das rheinische Idiom hören, so wie früher, als sie mal ein paar Monate in Köln oder Bonn gewohnt haben.
Ja, jeder ist anfällig für das Jeckenvirus. Fehlte nur noch, dass der Saal nachher zur Polonäse Blankenese (sic!) „Hamburg, ahoi, ahoi, ahoi!“ skandiert hätte. Sicher aber basteln sie bald schon ihre Sperrholzvorräte zusammen für Prunkbarken, die dann 2003 auf der Elbe den schwimmenden Rosenmontagszug geben. In einer Schillstadt ist alles möglich.
Ja, die jecken Jene. Die hat, wirklich wahr, sogar jene evangelische Theologin aus der Diaspora Bielefeld, die dem deutschen Bundestag als Vizepräsidentin vorsteht: die Grüne Antje Vollmer. Seit 1993 sitzt sie jedes Jahr, die Verkleidung als integrierter Bodyguard, begeistert beim Strunx-Event im Aachener Publikum. „Karneval“, sagt sie so begeistert wie wahr, „ist am politischsten, wenn er auf die eigenen Leute zielt, die eigenen Ideale und Sentimentalitäten.“ Und das tue Strunx, so Vollmer: „Nach außen können wir jeden aufs Korn nehmen. Aber die eigenen versteckten Lustbarkeiten zu attackieren, das war von Anfang an das Erfolgsgeheimnis.“ Ein Vorbild für die grüne Partei: „Wir gelten ja als humorfern.“ Also: Joschka Fischer als Stimmungssänger! Rezzo Schlauch als Tanzmariechen!
Karneval wirkt nach. Aus den Ohren raus muss noch Tage danach die musikalische Dauerberieselung aus Karawanenweiterzügen und den zehn Frisösen auf 20 Zentimeter – sei es das sexistische Original oder die grandios veralberte Arienversion bei der „Nokia-Night of the Prolls“ der Kölner Stunksitzung. Und der Autor wird sich über Monate mit der quälenden Frage beschäftigen, ob er nächstes Jahr wirklich ins feindliche Ausland fahren soll: nach Düsseldorf. Dort soll es Gerüchten zufolge auch Karneval geben. Und sogar eine Alternativsitzung. Die auch Stunk heißt. Was die Kölner ihnen zu verbieten trachten. Arbeit für jecke Juristen zwischen allen Aschermittwochen.
Bis dahin, wie immer: ein dreifach ätzendes Helaaf und Alau.
Fragen zu Plagen?kolumne@taz.de
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