: Barbaren mit Q-Tips
Pragmatische Völkermischungen beim Herrn der Ringe: die dokumentarische Highend-Serie „Sturm über Europa“ beschäftigt sich mit der europäischen Frühgeschichte (Teil 1: Sa, Teil 2, 3 und 4: So, immer 20.45 Uhr, Arte. Ab 3. März einzeln im ZDF)
von CHRISTIAN BUSS
Können Geschichtslehrer vom E-Commerce lernen? Als das Internet als Umschlagplatz für Waren entdeckt wurde, stellte man den Käufern gerne eine virtuelle Assistentin zur Seite, die sie durch die elektronischen Supermärkte geleiten sollte. Je abstrakter ein Thema, dachte man sich, desto größer ist das Bedürfnis nach menschlicher Nähe – mag sie auch nur simuliert sein. Das dürften sich auch die Produzenten von „Sturm über Europa“ überlegt haben, einer Geschichtsdoku über die Völkerwanderung, in der dieser Themenkomplex unterhaltsam wie ein Sandalenepos und mit neuesten technischen Standards aufbereitet wird. Sogar ein künstlich geschaffener Assistent kommt darin vor; er begleitet das Publikum durch ein buntes Dickicht aus Relikten, Schautafeln und Theorien.
Dass die TV-Historiker tatsächlich vom E-Commerce gelernt haben, lässt sich schon an der Wortwahl feststellen, mit der sie ihr Produkt bewerben: „Sturm über Europa“, so heißt es im Presseheft, sei ein „dokumentarisches Highend-Programm“. Das kann da so stehen, schließlich wird in dem ZDF-Vierteiler, der heute und morgen von Arte erstausgestrahlt wird, mit biometrischen Methoden und digitalen Tricks gearbeitet. Am Anfang des ersten Teils, der sich mit den Kimbern und Teutonen beschäftigt, darf der Zuschauer sogar bei der Zeugung des virtuellen Assistenten dabei sein: Im Naturhistorischen Museum von Budapest, wo an die 40.000 ausgegrabene Totenköpfe in den Regalen lagern, modelliert eine Anthropologin nach den Vorgaben eines archivierten Kimber-Schädels ein sympathisches Konterfei. Wenig später erwacht die restaurierte Visage zu neuem Leben.
Der revitalisierte junge Mann erreicht mithilfe von Überblendungen ziemlich flott seine Heimat im kühlen Norden. Und der Zuschauer darf ihm folgen in ein Dorf, das in seiner pittoresken Betriebsamkeit an die Siedlung der Hobbits in „Herr der Ringe“ erinnert. Dann kommt der Winter und mit ihm der Hunger; der Stamm macht sich in den Süden auf. Die Völkerwanderung hat begonnen, und der Zug der Kimber, nachgestellt mit 1.000 Komparsen, schlängelt sich durch die Landschaft wie der Siedlertreck in einem Western von John Ford.
Natürlich kann man man es dubios finden, dass die Autoren Christian Feyerabend und Uwe Kersken ihre historischen Rekonstruktionen nach den Regeln des Abenteuerkinos vorantreiben. Dass der Soundtrack an einen zweitklassigen Kostümschinken erinnert. Und dass der Sprecher schon mal idiotisches Pathos verbreitet. So wird das Ende der fast 20-jährigen Wanderungsbewegung der Kimber aus dem Off mit erschütternder Einfalt analysiert: „Auch Krieger werden einmal müde und wollen ein Dach über den Kopf.“ Doch trotz dieser plakativen Dramatisierungen lassen sich die Filmemacher nicht zu unhaltbaren Spekulationen hinreißen. Um Lücken in der Forschung zu überbrücken, stellen sie notwendigerweise Mutmaßungen an, kennzeichnen diese aber auch als solche. Außerdem gehen sie wacker gegen Fehleinschätzungen an, die immer mal wieder Verbreitung finden: Die Blut-und-Boden-Attitüde etwa, die den Germanen von den Nationalsozialisten nachgesagt wurde, entbehrt jeder Grundlage. So zeigt sich, dass die Germanen sich auf ihrer Wanderschaft pragmatisch mit allerlei anderen Völkern vermischten.
Gleichzeitig wird das Bild des Rohlings revidiert: Zwar sollen die Kimber Wildschweine mit Haut und Haaren verschlungen haben, in Sachen Toilette aber hatten sie hohe Standards. Jeder Barbar soll eine Art Kulturbeutel bei sich getragen haben – neben einer Pinzette zum Nasenhaarezupfen befand sich darin auch eine antike Form des Q-Tips.
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