: In Sachen Pietät
Ein Zeremonienleiter erzählt
von GABRIELE GOETTLE
Josef Schirmböck, Zeremonienleiter der BESTATTUNG WIEN. 1951 Einschulung i. Wien. Nach der Volksschule vier Jahre Hauptschule. 1959 Aufnahme d. Lehre als Goldschmied. 3 Jahre Berufsschule. 1963 Abschluss d. Lehre mit d. Gesellenbrief. Absolvierung d. Dienstes b. Bundesheer. Arbeit als Goldschmied bis 1968. Wechsel d. Berufstätigkeit, bedingt durch zunehmend starke Metallallergie. Nach verschiedenen Beschäftigungen, von 1970 bis 1985 feste Anstellung als Autoverkäufer bei Peugeot i. Wien, zuständig für Verkauf und Schadensabwicklung. 1985 wegen Firmenschließung Verlust d. Arbeit. Vorübergehender Broterwerb als Taxifahrer usw. 1986 Einstellung bei der BESTATTUNG WIEN u. Ausbildung z. Zeremonienleiter. Josef Schirmböck wurde am 22. 1. 1945 i. Waidhofen a. d. Ybbs geboren. Die Mutter war Hausfrau, der Vater gelernter Schlosser. Er betrieb ein Geschäft als Bierdepositeur. Herr Schirmböck ist ledig u. kinderlos.
Tod und Sterben sind bei uns weitgehend aus dem gesellschaftlichen Blickwinkel verbannt. Beides ist nicht kompatibel mit der hochdynamischen Lebenspraxis, die gilt. Verlangsamung oder gar Stillstand erzeugen im Betrachter Panik und Grauen. Der Friedhof ist ein Ort für die Verwahrung der menschlichen Rückstände, besucht vor allem von rüstigen Witwen mit Harke und Gießkanne. Im Mittelalter waren Kirchhöfe Orte der Geselligkeit. Tod und Sterben galten als eine öffentliche Angelegenheit und waren noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestandteil des Familienlebens, unter Einschluss von Kindern und Nachbarn. Heute sterben fast 90 Prozent der Deutschen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen, unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit; einsam, isoliert und hilflos. Wir haben das Sterben verlernt, sind nicht mehr der Souverän in unserem Sterbezimmer und Sterbebett. Ehemals wusste in der Regel jeder, wann sein letztes Stündlein nahte und was zu tun war.
Nach dem Ableben wussten Angehörige, Freunde und Nachbarn bis ins Detail, was getan werden muss, dem jeweiligen Brauche gemäß wurde es getan. Heute sind die zuständigen Angehörigen eines, meist längst aus ihrem Leben geschiedenen Verstorbenen in der Regel vollkommen hilflos und überfordert, was die zu veranlassenden Prozeduren angeht. Dabei erübrigt die Hospitalisierung der Alten ja einen großen Teil der hinterlassenen Verpflichtungen. Weder muss ein Totenschein beschafft werden, noch bedarf es der Abmeldung von Telefon, Rundfunk und Fernsehen, des Kabelanschlusses, der Gas- und Stromversorgung, der Fernwärme, der Kündigung von Zeitungsabonnements, Mitgliedschaften, des Mietvertrages, von Daueraufträgen und Verträgen und der Auflösung der Wohnung. Das meiste davon ist bereits geschehen zu Lebzeiten, den verbleibenden Rest erledigen Arzt, Leichenbestatter und Notar.
Wenn der so genannte Trauerfall eingetreten ist, muss der Hinterbliebene einen Leichenbestatter mit der Abwicklung dessen, was noch zu tun bleibt, beauftragen. Zahllose Bestattungsunternehmen bieten ihre uneinschätzbaren Dienste an, werben mit „schneller Hausabholung“ und damit, ein „fairer Partner in schweren Stunden“ zu sein. Allein in Berlin konkurrieren in aller Härte ca. 200 Bestatter – vom altehrwürdigen Traditionsunternehmen bis hin zum Sargdiscount – um die 36.000 Aufträge, die jährlich anfallen. Ganz anders sieht das in Wien aus. Dort ist die Bestattung in kommunaler Hand. Das Unternehmen selbst existiert seit 1907. Es wurde vom damaligen Bürgermeister Lueger – einem christlichsozialen, populistischen Politiker und scharfen Antisemiten – durch Aufkauf und Zusammenlegung zweier Großunternehmen für die Stadt Wien gegründet.
Die vollständige Kommunalisierung des Bestattungswesens zog sich über lange Zeit hin. Mit Hilfe kluger Verordnungen wie der, dass die Vergabe von Konzessionen nur bei Bedarf zulässig war, kam man aber allmählich ans Ziel. 1951 wurde mit der Übernahme von Payer, Schmutzer & Co. – einem der letzten großen Leichenbestattungsunternehmen – die Kommunalisierung abgeschlossen. Heute ist die BESTATTUNG WIEN Bestandteil der Stadtwerke, hat 460 feste Mitarbeiter und 50 Leichenwagen. Zum Unternehmen gehören eine Sargfabrik und eine Druckerei. Angegliedert ist auch ein eigenes Museum, mit historischer Sammlung zur Geschichte von Bestattungskultur und Friedhofswesen, in dem ein sehr passionierter älterer Angestellter interessante Führungen macht.
Das Hauptgebäude der BESTATTUNG WIEN liegt nah am Belvedere und hat eine unauffällige 30er-Jahre-Fassade. Wir sind angemeldet und werden vom Direktor Mag. Arno Molinari empfangen, einem schlanken, dunkelhaarigen älteren Herrn, der uns formvollendet in sein Büro bittet. Der Zeremonienmeister, den er für uns als Gesprächspartner ausgewählt hat, ist auch schon da. Uns die Hand reichend, sagt er: „Schirmböck, Josef. Wie der Schirm und Böck wie der Bock, stehe ganz zu ihrer Verfügung …“ Er ist mittelblond und kräftig, trägt einen dunklen Anzug, schwarze Krawatte und ein blassblaues Button-down-Hemd, lächelt freundlich und schweigt, während der Direktor über die Besonderheiten des Gewerbes spricht:
„Sie haben natürlich Recht, es ist ein Monopol und deshalb kann es angegriffen werden. Es ist nur so lange gut, solange es wirklich gut ist. Daran muss man unheimlich arbeiten, und der Herr Schirmböck hier, der täglich auf dem Friedhof ist, der weiß, dass man Kundendienst nicht nur auf den Lippen führen kann, den muss man bieten. Ständig … täglich, 20.000-mal im Jahr, und damit das alles geboten werden kann, haben wir Schulungen und ständige Kontrollen … und ein Minimum an Beschwerden ist das Ergebnis. Wir haben eine positive Bilanz, betriebswirtschaftlich, aber gerade auf Grund unseres Monopolistendaseins sind wir ja nicht dazu da, um Gewinne zu maximieren, was leicht wäre in dieser Stellung. Wir bekommen keine Subventionen und nix, wir müssen eben gut wirtschaften. Und weil wir das tun, sind wir, im Landesdurchschnitt gesehen, hier in Wien am billigsten in Österreich – was ja verständlich ist, wenn man 20.000 Bestattungsleistungen durchführt, während ein anderer vielleicht nur 200 macht. Die Tarife sind bei uns so gestaffelt, dass auch bei einfachen Bestattungsdurchführungen eine würdige Trauerfeier gewährleistet ist.
Das betrifft natürlich auch Beerdigungen von Menschen, die keine Hinterbliebenen haben. Das Wort ‚Armenbegräbnis‘ geistert seit Jahrzehnten durch die Öffentlichkeit, aber diesen Ausdruck gibt es bei uns gar nicht, es ist so: Wenn keiner sich kümmert, dann kommt es zu ‚Beerdigung auf Antrag der Sanitätsbehörde‘, und der Verstorbene kriegt einen Sarg und ein Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof. Der Preis entspricht dem einer ‚einfachen Beisetzung‘ um 13.000 Schillinge (ca. 930 Euro, in Berlin kostet eine ‚Sozialbestattung‘ 1.278 Euro, Anm. G. G.). So jemand wird bei uns ganz normal bestattet. Aufgebahrt wird in einer schönen Halle, und mein Vor-Vor-Vorgänger, der Dr. Jerusalem, hat vor über 25 Jahren eingeführt, dass wir, als Unternehmen, einen Blumenstrauß auf diese Särge legen, obwohl kein Mensch dort ist, üblicherweise. Und der Dr. Jerusalem hat das übrigens damals auch eingeführt, dass jede Trauerfeier von einem Zeremonienleiter überwacht wird …“
Herr Schirmböck lächelt, die Sekretärin kommt und fragt, ob wir etwas trinken möchten.
„Das ist eine gute Frage“ sagt Herr Direktor Molinari, „sind Sie bitte so liebenswürdig, uns was zu bringen?“
Wir möchten etwas über die Prozedur wissen, die im so genannten Trauerfall notwendig wird. „Also“, sagt Direktor Molinari und holt Luft, „entweder man stirbt in einem Spital, oder man stirbt zu Hause. Üblicherweise stirbt man schon zu 80 Prozent in Spitälern in der Großstadt. Der Totenschauarzt stellt dann nach der Totenbeschau die „Anzeige des Todes“, die Todesbescheinigung und den „Leichenbegleitschein“ aus. Danach ist sofort die 5 01 95-01 anzurufen, das ist die BESTATTUNG WIEN, damit die Abholung des Toten veranlasst werden kann, denn die Abholung soll am Tage der Totenbeschau durchgeführt werden. Spätestens am folgenden Tag ist das Standesamt aufzusuchen. Jetzt kommt es darauf an, wo der Tod eingetreten ist, in welchem Bezirk, und zwar deshalb, weil ein Todesfall ja beurkundet werden muss, und wir haben unsere Filialen – es sind elf an der Zahl – dort, wo ein Standesamt ist. Der Zweck ist, dass die Hinterbliebenen nicht auch noch weite Wege gehen müssen. Wenn jetzt also jemand z. B. im Spital in Lainz stirbt, im 13. Bezirk …“, die Getränke werden gebracht, er dankt der Sekretärin und fährt fort, „also wenn der dort verstirbt, dann ist es zweckmäßig, wenn die Hinterbliebenen in unsere Filiale in Hietzing gehen. Sie können aber genausogut hierher gehen, es ist ja kein Zwang, sondern Entgegenkommen, nur müssen sie dann wieder nach Hietzing fahren, um dort dann die Sterbeurkunde zu lösen. Aber lassen wir das Standesamt, das ist nur verwirrend … ein Todesfall muss ja glaube ich, überall in Europa beurkundet werden …“
Herr Direktor Molinari holt eine dicke Mappe vom Schreibtisch und sagt: „Hier bei uns wird dann die Trauerfeier bestellt. Da bekommen sie einen Katalog vorgelegt … ich sage jetzt nur Trauerfeier, denn in Wahrheit bestellen sie alles, was zwischen dem Sterbebett und dem Friedhof liegt: die Abholung des Verstorbenen, seine Versargung, die Trauerfeier am Friedhof und so weiter. Und wo wir schon beim Sarg sind – ich habe mir ja Zeit genommen für Sie – noch eine kleine Geschichte: Nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine Riesengrippeepidemie, 1918 war das, mit weltweit 20 Millionen Todesfällen. Und weil die privaten Sargerzeuger den Bedarf, der spontan und plötzlich auch hier in Wien aufgetreten ist, nicht decken konnten, hat die Stadt sich entschlossen, einen eigenen Betrieb zu gründen. Seitdem hat die BESTATTUNG WIEN einen eigenen Sargerzeugungsbetrieb angegliedert, und weil wir eine der größten BESTATTUNGEN Mitteleuropas sind, ist auch unser Sargbedarf nicht gerade klein. Fragen Sie mich, wie viele Särge im Betrieb hergestellt werden, und ich sage Ihnen, es werden dort 30.000 hergestellt pro Jahr … Und diese Särge werden mittels Katalogen dann verkauft.“
Er präsentiert schnell einige der farbigen Abbildungen. Auf die Frage, ob er mir drei typische Modelle empfehlen könne, blättert er und berät sich murmelnd mit dem Zeremonienleiter: „ … der Siebenunddreißiger, der Einser … und der Kremationssarg, das ist ein Weichholzsarg, aber sehr schön“, wieder murmelnd, „der ned, der ist für Exhumierungen!“, und an mich gewandt, in entschiedenem Tonfall: „Das ist der Kremationssarg, den würde ich ihnen empfehlen … und den Buchensarg: als mittleres Modell, den Eichenholzsarg hier als dritten, der ist natürlich teuer. Es gibt viele Modelle, aber im Prinzip sind sie alle gleich.
In unserem Wiener Leichen- und Bestattungsgesetz – mit dem will ich Ihnen nicht traktieren – das habe ich da am Tisch liegen, weil ich jeden Tag reinschauen muss, da steht z. B. nicht genau definiert, wie ein Sarg ausschau’n muss, er muss aus einem verrottbaren Material sein, aber ob er bemalt sein darf, rund oder eckig, das steht nicht drin. Es steht aber drin, dass ein Verstorbener nur mit einem Sarg bestattet werden darf bei Erdbestattung. Also man darf ihn nicht, auch wenn man will, so, wie er ist, in ein Grab legen – und auch die Maße des Grabes, das der Friedhof zur Verfügung stellen muss, sind vorgeschrieben, 2,20 Meter lang, 80 Zentimeter breit – manches kann man eben nicht verbessern. Der Kaiser Joseph II., der ja sehr reformfreudig war, hat das versucht. 1784 wurde per Hofdekret verfügt, dass alle Leichen – auch die des Adels natürlich – nur eingenäht in einen Sack, im Josephinischen Klappsarg zu Grabe getragen werden sollen. Der Sarg hatte einen Klappmechanismus, über dem Grab öffnete sich der Boden und der Sack mit der Leiche fiel ins Grab. Der Sarg konnte ständig wiederverwendet werden.
Aber das war nur kurzfristig üblich, dann wurde es wegen starker Proteste wieder abgeschafft … weil es gehört ja schon ein gewisser Magen dazu, dass der geliebte Verstorbene da runterplumpst, das hat sich nicht gehalten. Also es gibt was, das ist in der Bevölkerung einfach historisch so drinnen, und das bewegt sich NICHT, dabei will man bleiben … ein anderes Beispiel dafür ist die Kremation.
Früher war ja die Kirche gegen die Feuerbestattung eingestellt, das ist aber seit dem 2. Vatikanischen Konzil im Jahr 1963 nimmer der Fall, damals ist die Erd- der Feuerbestattung gleichgestellt worden und jeder, der’s wünscht, wird bei einer Kremation auch eingesegnet. Trotzdem haben wir in Wien nicht mehr als 17 Prozent Kremationen. Je weiter man in Europa nach Norden geht, desto mehr nimmt das eigentlich zu …“
Wir fragen nach der viel beschriebenen Todesverliebtheit der Wiener und was davon noch übrig geblieben sei. Herr Molinari zögert einen Moment und sagt dann: „Das ist das Bild im Ausland, ich versuche immer dagegen zu sprechen, nicht aus Leidenschaft, sondern weil’s ein Unsinn ist. Das mag früher mal seine Bedeutung gehabt haben, aber wenn sie heute in Rom, Mailand, Madrid, Marseille, München, Düsseldorf oder Berlin auf irgendeine Beerdigung gehen, dann ist das immer ähnlich, und gerade die südlichen Länder haben ja viel mehr pompes funèbres als wir. Aber aus irgendeinem Grund sagt man … die ‚Schöne Leich‘, das ist in Wien was besonderes. Wenn sie aber bei uns auf eine Beerdigung gehen – wozu ich sie beide gerne einlade, wenn ’S Lust haben – dann ist das ganz normal, da tut sich nix Besonderes … im Sinn von: Jesassna! Das ist typisch Wien … So, sind Sie zufrieden? Der Herr Schirmböck steht Ihnen jetzt zur Verfügung.“ Herr Schirmböck sagt: „Theoretisch bin ich heute voll ausgebucht …“ Direktor Molinari sagt: „Er ist bereit“, lächelt unverbindlich und reicht uns die Hand zum Abschied.
Im Auto von Herrn Schirmböck – er fährt einen Golf und keinen Peugeot – fahren wir durch den dichten Stadtverkehr nach Westen. Während er erzählt, lenkt er sicher, zügig, aber nicht forsch den Wagen. „Ich schlage vor, wir fahren erst kurz zu mir nach Hause, weil sie das ja auch sehen wollen, und dann auf den Friedhof … Ich bin leider gar nicht vorbereitet. Ich hab nämlich nicht gewusst, dass ich heute hinein muss zum Direktor, weil man hat mich gestern erst spät angerufen am Friedhof und gesagt, heut ist ein Termin beim Direktor, der will was von Ihnen. Da habe ich nur gefragt; gut oder schlecht? Und es hat geheißen: Keines von beiden … Da war ich beruhigt.
Ich bin jetzt 16 Jahre in dem Betrieb und habe noch keinen Tag bereut. Man wird korrekt behandelt, es passt alles und nicht wie bei einem Privaten, wo du um alles zittern musst. Ich hab es gut, bei normaler Arbeitszeit isses sechs Stunden. Von 8 bis 16.30 sind so die normalen Beerdigungszeiten, es gibt auch Sondertermine. Also ich bin im Außendienst beschäftigt, als ‚Sondervertragsbediensteter‘, meine Bezahlung ist ein Gehalt, ich kriege halt nur für 30 Stunden den aliquoten Teil, dafür habe ich aber eine schöne Arbeit, bin ein freier Mensch und habe Lebensqualität!! Sie, das ist unbezahlbar. Als Zeremonienleiter bin ich sozusagen der Chef von denen am Friedhof … na ja, ‚Chef‘ stimmt eigentlich nicht, ich bin, kann man sagen, die Vertretung der Direktion am Friedhof und überprüfe, ob alles seine Richtigkeit hat und stehe dem Kunden als Ansprechpartner zur Verfügung, falls der noch Wünsche hat oder Beschwerden; aber das gibt’s fast nie. Aber manchmal sind die Leute durch einen Todesfall eben empfindlich oder sekkant … das gibt’s schon. Der Kunde ist König! Es ist nie langweilig, weil so viele Leute zusammenkommen, und jeder ist anders, nix ist gleich. Es gibt keine gleiche Beerdigung. Drum wird es nie fad. Ich bin jeden Tag wo anders. Es gibt ja 54 Friedhöfe in Wien, glaub ich, und die BESTATTUNG WIEN hat insgesamt zwölf Zeremonienleiter, das ist normal der Stand, aber jetzt sind nicht alle besetzt … So, wir sind da.“
Herr Schirmböck wohnt im 14. Bezirk, in Oberbaumgarten. Die ruhige Straße, eine Sackgasse, steigt leicht an. Weiter oben liegt die Baumgartner Höhe mit der berühmten, von Otto Wagner entworfenen Landesirrenanstalt Steinhof. Ganz in der Nähe befindet sich der Friedhof Baumgarten, auch eine der Arbeitsstätten von Herrn Schirmböck. Er wohnt in einem schönen alten Mietshaus. Im Treppenhaus, das nach Wiener Manier Steinstufen hat, befindet sich noch das original Jugendstiltreppengeländer mit den dazugehörigen Treppenhauslampen und Wohnungstüren. Auch in der schönen großen Wohnung sind die Jugendstilelemente noch fast alle erhalten. Der Parkettboden ist tadellos und schwellenlos verlegt. Mildes Licht, gedämpft durch die Bäume ringsum, herrscht in den Räumen. Ein kleiner, alter Hund, schwarz, mit weißer Schnauze, kommt bellend und zögernd näher. „Freddy“, ruft Herr Schirmböck, „keif net!“ Und zu uns: „Er ist ja schon 17, der tut nix. Manchmal hat er seinen terrischen Tag. Er hat ein bissl was an der Prostata, aber dagegen kriegt er eine Hormonspritze, die hält immer sechs bis acht Wochen an, dass eben die Prostata nicht anschwillt …“
Der Hund hüpft auf sein Lager auf der weißen Ledercouch und verstummt, sobald wir Platz genommen haben. An der Wand hängen zwei Obststillleben. Im genau eingepassten Bücherregal stehen Opernführer, Märchenbücher, viele Atlanten und Länderbücher, Belletristik, die Habsburger und Wilhelm Busch. Eingespannt in einem Gestell, ein angefangener geknüpfter Teppich. Auf dem Boden liegen ebenfalls selbst geknüpfte Teppiche mit ruhigen Mustern und Farben, auch ein runder.
„Das ist das Hobby meiner Lebensgefährtin“, sagt Herr Schirmböck, „sie arbeitet auch, als Drogistin. Unsere Wohnung genießen wir vor allem am Wochenende, ja, sie ist schön. 120 Quadratmeter []und nicht teuer, ein bissl über 5.000 Schillinge (etwa 365 Euro), die halbe Etage, mit Balkon und Keller. Da habe ich aber auch fünf Jahre gesucht …“
Herr Schirmböck stellt Getränke auf den Tisch, setzt sich etwas steif in den Sessel und erzählt: „Ich sag’s Ihnen ehrlich, ich liebe meine Arbeit. Den Dienst gibt mir die Telefonzentrale … sag ich, guten Morgen Frau Ledl, was haben wir für einen Dienst morgen? Dann sagt sie z. B. ‚Morgen ist Ottakring, 8 Uhr 30 bis 15 Uhr‘, ingesamt sechs Durchgänge oder auch acht. Ob ich zu einer Erdbestattung gehe, zu einer Feuerbestattung oder auch zu einer Exhumierung, das liegt am Aufnahmedienst. Der hat das Ermessen, mich einzuteilen. Also theoretisch kann man machen am Tag … sieben, acht Beerdigungen. Die Urnen gehen schneller, weil da keine Feier ist, die ist ja bei der Verabschiedung im Krematorium. Mein Auftrag ist dann der, dass ich am Friedhof den Auftrag quasi kontrolliere, den der Kunde bestellt hat, also seine ordnungsgemäße Ausführung. Den Auftrag muss ich dann ja auch abzeichnen und was ich abzeichne, dafür bin ich verantwortlich. Ich sage zum Arrangeur, ‚guten Morgen Kollege, ich geh eben mal die Aufträge durch‘, dann muss ich, wenn alles bereit ist schau’n, sind die Beistellleistungen da, der 9-flammige Leuchter zum Beispiel, eine Lebenskerze, das Blumenarrangement oder die acht Sänger, wenn’s einer bestellt hat. Da darf nix fehlen, das wäre ein Betrug am Kunden. Ich pass’ auch auf, dass alles in Würde und Anstand abläuft. So können wir Beschwerden fast vollkommen vermeiden.
Aber schaun Sie, es gibt ja immer Leute, die finden irgendwas … nichts Gravierendes, aber, was weiß ich, der Weg war im Winter nicht so geräumt, wie’s sein soll, oder das Personal war nicht genug ernst oder hat keine geputzten Schuhe … und dafür bin ich dann da und kläre das gleich mit dem Kunden. Das wichtigste ist die Einfühlsamkeit. Ich war 16 Jahre früher im Autogeschäft, im Kundendienst, da muss man es im Gefühl haben, wie man mit dem Kunden umgeht. Heute sehe ich’s schon am Publikum, am G’wand und wie sie sich geben, auch an den Blumenspenden und allem, mit wem ich es zu tun habe. Wenn einer sagt Dr. Meier oder Herr Sektionschef, dafür braucht man ja keine Menschenkenntnis. Ne, schaun Sie, auch unabhängig davon, es gibt arme Leut’, einsame, die schweigen, es gibt welche, die stehen fünf Minuten neben mir und ich weiß die ganze Lebensgeschichte, und das horch ich mir eben an, stumm wie ein Grabstein. Oft geht’s zu wie in einem Kaffeehaus, mit lauter Unterhaltung. Die gehen gar nicht erst rein in die Aufbahrungshalle, man muss sie auffordern, dass die Feier beginnt. Dann gibt’s Familien, die stehen schon eine halbe Stunde vorher in der Aufbahrungshalle und rühren sich nicht. Es gibt ganz arme Leute, die sind allein und brauchen Trost, da renn’ ich natürlich nicht davon, mir tun’s Leid, ehrlich gesagt, das tut manchmal weh, wenn ich das seh’.
Aber man kann ja nicht jedes Mal mitsterben. Deprimierend sind die kleinen, weißen Kindersärge. Es gibt alles, und es gibt natürlich auch unangenehme Leute, die wollen den Blumenschmuck alle fünf Minuten woanders hin, von links nach rechts und wieder zurück und dann den Kranz, am Schluss steht alles wie gehabt. Da muss ich natürlich die Fassung behalten. Die netten Leute, die sind zufrieden. Manche bieten mir sogar Trinkgeld an. Die können nicht wissen, dass ich kein’s nehmen darf, weil ich ja sonst keine Autoritätsperson mehr bin. Das Konduktpersonal – also das sind bei einer Normalbeerdigung vier Sargträger und ein Arrangeur – darf Trinkgelder nehmen, und die bemühen sich eben sehr, dass alles gut rennt.
Das ist so das Normale, und dann gibt’s die Ausnahmen. Im 1. Bezirk sind manchmal Kirchenaufbahrungen, letztens in der Stephanskirche der Generalvikar Berger. Von unserem Personal wurde der Sarg feierlich hinuntergetragen. Dort wurde er dann in einer Nische eingemauert. Die haben einen eigenen Maurer, die Kirche. Mein größtes Begräbnis war die Zita, letzte Kaiserin von Österreich … das war meine Gesellenprüfung. Es war das größte Begräbnis, was es in neuerer Zeit gegeben hat. Am 1. April 1989. Sie war aufgebahrt worden in der Stephanskirche. Ich schau mal, ob ich das Foto finde.“ Er sucht im Nebenzimmer.
„Nee, im Moment finde ich nur das Trauerblatt von der Kreisky-Beisetzung, das schenk’ ich Ihnen, bitte. Der Direktor und alle waren gekommen zur Zita. Es gab ein großes Requiem, dann ist sie von den Tirolern ganz langsam zu dem berühmten Leichenwagen getragen worden, dem großen, mit die acht Pferd. Und achtspännig ist sie über den Graben und über den Kohlmarkt dann zur Kapuzinergruft g’führt worden. Dort war noch diese Zeremonie … der Haushofmeister muss anklopfen und EINLASS begehren, so schreibt es das Ritual vor. Er muss alle Titel aufzählen, und erst wenn sie zum Schluss keinen Titel mehr hat, wird die Tür von innen aufgetan. Es waren ja Menschenmengen da und internationale Presse usw. Unsere Aufgabe bestand im Prinzip darin, dafür zu sorgen, dass dann der Weg frei ist, dass alles passt, oder wenn wer was wissen will, dass man die entsprechenden Auskünfte gibt. So, jetzt fahren wir auf den Hietzinger Friedhof. Das ist ein Nobelfriedhof, da liegen viele Prominente, und es gibt sehr schöne Mausoleen von Familien des alten österreichischen Hofadels, und auch die guten Bürger liegen dort. Er ist nicht sehr groß, aber er hat zwei große Aufbahrungshallen, die Luster sind von Lobmayer, das Rondeau ist von Hollein …“
Der Hietzinger Friedhof liegt im 13. Bezirk, auf dem Areal des Schlosses Schönbrunn, zwischen dem Tiergarten und dem Fasanengarten. Er ist berühmt durch seine Empire- und Biedermeiergrabsteine. Hier liegen u. a. der Baumeister Otto Wagner, Franz Grillparzer, Alban Berg, Auer v. Welsbach, der Erfinder des Gasglühlichtes, der Verleger Zsolnay, Rudolf Prack, Gustav Klimt und Clery, der letzte Kammerdiener von Ludwig dem XVI. Wir gehen durch den Hintereingang. Herr Schirmböck befestigt ein emailiertes Dienstabzeichen an seinem Revers.
„Das muss ich im Dienst tragen, das ist Vorschrift. Manchmal, wenn ich’s vergesse runterzugeben und ich fahr’ Straßenbahn, dann passiert es, dass plötzlich Leute aussteigen, weil die glauben, ich bin der Kontrolleur. Es ist der Adler. Nur steht bei denen drauf VERKEHRSBETRIEBE WIEN. Ja … hier und anderswo bin ich also alle Tage unterwegs, immer draußen. Wenn wer was von mir will, muss er einen Melder schicken, Handy hab’ ich keins, das gehört nicht auf den Friedhof. Mir wird’s nie fad bei der Arbeit, wir ham ja alles, auch Moslembegräbnisse. Für Moslems gibt es einen eigenen Waschraum am Zentralfriedhof. Manche sind fanatisch, da muss man aufpassen. Oder zum Beispiel die Chinesen. Die Farbe der Trauer ist weiß, sie tun auch Essen vor den Sarg hinstellen und bündelweise Räucherstäbchen … genauso ein russisch-orthodoxes Begräbnis … der Geistliche hat einen Weihrauchkessel mit, dass’d glaubst, die Halle brennt, da rennen die Leute hustend raus, und ich steh’ da und der wachelt (wedelt) und wachelt, da darf ich nicht das Gesicht verziehen, das gehört zu meinen Aufgaben.
Mit den Juden ist es wieder anders aufgrund der religiösen Vorschriften. Drei von den 54 Wiener Friedhöfen gehören der Israelitischen Kultusgemeinde, der in Florisdorf und die zwei großen, am Zentralfriedhof. Die sind im Eigentum, weil die Juden für die Totenruhe ja bleibende Gräber haben, während das bei uns nach zehn Jahren … Wir haben in der Goldeggasse (BESTATTUNG WIEN) auch das Sarglager der Kultusgemeinde und wir machen die Transporte, wenn sie einen bestellen für einen Verstorbenen. Es kommt dann einer von ihren Bestattern mit, hewra kadisha heißen die, glaube ich, wir bringen den Toten hin und am Friedhofstor endet unsere Tätigkeit. Das muss alles beachtet werden, und man darf nichts verwechseln, es muss eben so sein, dass alles passt.“
Aus der Feierhalle kommt gerade eine gut gekleidete Trauergesellschaft, vier Träger mit dunklen Talaren und Käppchen heben den Sarg auf ein Wägelchen, dann setzt sich der Zug, voran ein Geistlicher und ein Kreuzträger, begleitet von Glockengeläut in Bewegung.
„Kommen ’S, wir gehen, wenn sie mich fotografieren wollen, etwas abseits zum älteren Teil. Die vier Sargträger sind Konduktpersonal, die sind von uns, der Kreuzträger ist von der Kirche. Unsere Aufgabe ist jetzt, den Sarg zum Grab zu bringen, für den Rest ist der Friedhof zuständig.“
Wir sehen uns zwischen alten Grabsteinen und Familiengrüften nach einem geeigneten Plätzchen um. Die Glocke läutet, der Tag ist heiter, Vögel zwitschern, und der Zeremonienmeister deutet im Vorbeigehen auf den einen oder anderen Grabstein. „Ah, der Conrads, ein Alleinunterhalter, ein Volksschauspieler … Ich soll mich also auf ein Bankerl setzen? Mal seh’n, ob wir eins finden … Müller, alle sind da, alles, was Rang und Namen hat in Österreich, da, das mit dem Rieseschwert des is der Feldmarschall, ein Stück weiter liegt der Dollfuß, dort ist die Böhlergruft vom Stahlböhler. Und bei der Gruft hier, da steht ein eigenes Bankl, weil das ist der Mauthner-Markhof, der Senffabrikant, das nehmen wir. Warten ’S, ich geb den Adler vom Revers … ein Zeremonienleiter darf nicht sitzen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen