: Als der Feind die Zeit raubte
Seit heute ist in der Kulturbrauerei in Pankow das Ausstellungsprojekt „Zwangsarbeit in Berlin 1938 bis 1945“ zu sehen. Die Schau wandert bis Sommer kommenden Jahres durch die ganze Stadt
von PHILIPP GESSLER
Anna Buczak wurde in dem Dorf Grabowiec in Südpolen geboren, lebt noch heute dort und war nur einmal in ihrem Leben länger fort von zu Hause, für 26 Monate. Das war in Berlin in den Jahren 1943 bis 1945. Seit vorgestern ist sie wieder in der Stadt, und natürlich muss sie sofort anfangen zu weinen, so sehr berührt sie das Wiedersehen mit diesem Ort. Die 77-Jährige war Zwangsarbeiterin in den Deutschen Waffen- und Munitionswerken in Borsigwalde und lebte im „Luna-Lager“ in Schönholz. Doch vom dortigen Elend erzählt sie fast nichts, sondern von ihrer Dankbarkeit für den deutschen „Meister“, der ihr erlaubte, ihre Kleidung nachts in der Seifenlauge einer Maschine zu waschen: „Wenn ich ihn treffen könnte, würde ich ihm die Hände küssen. Er war ein sehr guter Mensch.“
Etwas sprachlos lauscht man solchen Äußerungen im Pferdestall der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg, wo seit heute die Ausstellung „Zwangsarbeit in Berlin 1938–1945“ zu sehen ist. Bis zum Sommer kommenden Jahres wird die Schau an elf Stätten der Stadt zu sehen sein – ergänzt jeweils durch Tafeln und Installationen zur Geschichte der Zwangsarbeiter in den einzelnen Bezirken. Den Auftakt bildet in der Kulturbrauerei die Lokalausstellung „Geraubte Zeit. Zwangsarbeit im Nordosten Berlins 1938–1945“.
Eine Fahne mit Anna Buczaks Geschichte hängt als eine von 13 Biografien von Zwangsarbeitern von der Decke herab. Anna Buczak ist eine von mehr als 400.000 Menschen aus über 20 Nationen, die in die damalige Reichshauptstadt deportiert wurden, hier schuften mussten und ausgebeutet wurden.
Alllein in Berlin kostete diese Zwangsplackerei im Dienst der deutschen (Kriegs-)Wirtschaft mindestens 12.500 Menschen das Leben. Ohne die Ausbeutung der aus den besetzten Ländern verschleppten Männer, Frauen und Jugendlichen wären die deutsche Wirtschaft und die Versorgung der Bevölkerung zusammengebrochen: Die Nazis hätten den Krieg beenden müssen. So halfen die Zwangsarbeiter gegen ihren Willen dem Feind.
„Praktisch jedes Unternehmen“, vom Handwerksbetrieb bis zum Großkonzern, hatte ab 1942 Zwangsarbeiter angestellt, berichtet Ausstellungsmacher Helmut Bräutigam. Über 1.000 Unterkünfte oder Lager wurden für sie hergerichtet: Säle waren ebenso darunter wie „regelrechte Barackenstädte“, so Bräutigam. Zwangsarbeit war omnipräsent: Eine Karte des Bezirks ist übersät mit roten Fähnchen, die Lager anzeigen.
Deshalb – das beweist die Ausstellung – lügt, wer als deutscher Zeitzeuge behauptet, er habe von diesen Verbrechen an den Zwangsarbeitern nichts gewusst. Bis zur Hausnummer genau belegt die Schau, wo in Pankow Unterkünfte für Zwangsarbeiter waren: etwa in der Falkenberger Straße 144, wo die Brüder Georg und Karl Jahnke eine Dachdeckerei betrieben. Für die „Errichtung einer Gefolgschafts-Kammer“ beantragten Jahnkes von den Behörden Beihilfen: Sie bauten eine kleine Baracke für ihre sechs Zwangsarbeiter.
Was aus ihnen wurde, ist nicht bekannt – aber das Schicksal von Natalija Ponomarenko, deren Arbeitskarte mit der Nummer 2499 erhalten geblieben ist. Das Foto einer jungen Frau ist darauf angeheftet, die verunsichert in die Kamera blickt. Daneben die Fingerabdrücke ihres linken und rechten Zeigefingers. Sie arbeitete in der Maschinenfabrik Dreilinden und erkrankte wie viele Zwangsarbeiter wegen Nahrungsmangel und fehlender Hygiene an Tuberkulose. Als sie nicht mehr arbeiten konnte, für die deutschen „Herrenmenschen“ also unnütz geworden war, wurde sie ins „Krankensammellager“ Blankenfelde gebracht. Das war ein Sterbelager, in das alle Zwangsarbeiter geschafft wurden, die nicht mehr ausgebeutet werden konnten. Dort starb Natalija Ponomarenko 1942. Sie war 17 Jahre alt.
Wo früher das Lager stand, ist heute eine Landstraße, die in der Schau als Foto gezeigt wird. Zu sehen sind eine Landstraße, Alleebäume, ein Feld. Rechts der Straße, auf dem Gelände des Lagers steht heute eine Kriegsgräberstätte für gefallene deutsche Soldaten. An das Sterbelager für die Zwangsarbeiter an gleicher Stelle in den Jahren 1942 bis 1945 erinnert nichts. Was können Fotos schon erzählen?
Anna Buczak wurde mit ihrer ganzen Familie im Februar 1943 von den Deutschen verschleppt. Ihr Bruder wurde im Durchgangslager Zamość erschossen. Ihre Mutter arbeitete in einer Lackiererei – auch deren Meister, ein Herr Lehmann, sei „ein guter Mensch“ gewesen: „Ein Mensch ist ein Mensch – ob es ein Deutscher ist oder ein Pole“, sagt sie.
Die Ausstellung schildert das Schicksal des Pfarrers Joseph Lenzel von der St.-Maria-Magdalena-Kirche in Schönholz. Der Seelsorger der polnischen Zwangsarbeiter wurde im Januar 1942 verhaftet. Lenzel wurde ins Lager Wuhlheide gebracht, dann nach Dachau, wo er im Juli 1942 ermordet wurde.
Einmal zu Ostern habe eine deutsche Familie ihnen Essenmarken gegeben, damit sie Brot bekommen konnten, erzählt Anna Buczak. „Da haben wir alle geweint“, sagt sie. Und kann die Tränen nicht mehr halten.
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