: Mein Leben als ewige Krise
Öl-, Sprach-, Roman-, Partnerschafts-, Globalisierungskrise. Wie man es auch dreht und wendet – die Jetztzeit stellt sich als abschüssiges Gelände dar. Bericht eines Ermatteten, der Hoffnung fand
von RAINER MORITZ
Mein Leben ist eine einzige Krise. Lange habe ich es nicht gewagt, dies so schonungslos auszusprechen, doch je länger meine Existenz währt, desto gesicherter erscheint mir diese Erkenntnis. Äußerlich betrachtet sieht alles undramatisch aus: 1958, mein Geburtsjahr, tat sich nicht besonders hervor: Charles de Gaulle wird französischer Ministerpräsident; Elvis Presley beginnt seinen Militärdienst im Hessischen, und Sepp Herbergers WM-Fußballer scheitern nach dem viel diskutierten Juskowiak-Platzverweis im ungastlichen Schweden. Gewiss, im November 1958 verlangt Chruschtschow die Revision des Potsdamer Abkommens, was die so genannte Berlinkrise heraufbeschwört. Man wird es meinem jungen Alter von sieben Monaten zuschreiben dürfen, dass mir der Begriff „Krise“ damals nicht weiter auffiel. Schließlich war ich ein Kind des frühen Wirtschaftswunders; alles lief prächtig: Meine Eltern schafften einen Fernseher an und ein Auto dazu, erst einen wackeren Käfer und dann einen VW 411 TL, der wohl kein Glücksgriff war. Höhnische Menschen interpretierten das Kürzel TL als „traurige Lösung“.
Meine Krisen kamen später – die Kubakrise fand in meinem Kinderzimmer nicht statt, das unruhige 1968 auch nicht. Um gegen den Muff unter den Talaren, Kurt Georg Kiesinger, den Schah von Persien oder Axel Springer anzutreten, war ich ein bisschen zu jung; einige Aufgaben sollte man auch älteren Brüdern überlassen. Für mich begann es 1973 mit der Ölkrise und der schockierenden Nachricht, dass die Mobilität des deutschen Mannes in Frage gestellt werde: Sonntagsfahrverbote kamen auf, und wir marschierten zur Autobahnbrücke, um staunend und ein wenig besorgt auf die leeren Fahrspuren am Weinsberger Kreuz zu blicken.
Seitdem bin ich die Krise nicht mehr losgeworden, wohin mich mein beruflicher und privater Weg auch führte. Womit ich mich beschäftigte: überall betretene Mienen, die mir erklärten, dass alles darniederliege und -gehe und sich alles seit langer Zeit – subkutan gewissermaßen – in einer schweren Krise befinde. Der Kapitalismus ohnehin, auch als man begann, ihn Spätkapitalismus zu nennen; die deutsche Fernsehunterhaltung, nachdem Peter Frankenfeld, Wim Thoelke oder Lou van Burg aufs Altenteil geschoben wurden und das böse Privatfernsehen kam, das permanente Krisenschübe auslöste; das Theater; der deutsche Film, der sich des Ansturms aus Hollywood nicht erwehren konnte; der Fußball, der plötzlich Figuren wie Jupp Derwall („Die Schmach von Gijon“) oder Harald Konopka nach oben schwemmte und einen Bernd Schuster ausmusterte; die Sozialdemokratie, die nach einem Zwischenhoch in der Daueropposition unter Helmut Kohl versank. Auch der deutsche Schlager, mit dem ich mich unbotmäßigerweise immer wieder befasst hatte, geriet um 1980 in schwere See – und „kriselte“ plötzlich, als unkonventionelle Interpreten wie Fräulein Menke, Trio oder Nena deutschsprachiges Liedgut der ungewohnten Art von sich gaben.
Meine Hoffnung, durch ein anständiges Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie auf krisensicheres Terrain zu gelangen, trog. Bald schon musste ich erkennen, dass es auch in diesen Disziplinen nicht zum Besten stand. Die Sprache selbst, so lernte ich zu meiner Überraschung, befand sich seit knapp einhundert Jahren in einer Dauerkrise. Hugo von Hofmannsthal hatte in seinem berühmten „Chandos-Brief“ das Nötige dazu gesagt; mit Realität, Wirklichkeit und Sprache sei es sehr komplex und problematisch und Worte hätten auch dem eloquentesten Zeitgenossen unweigerlich „wie modrige Pilze“ im Munde zu zerfallen.
Und weil es mit der Sprache haperte, klappte es auch in der Literatur nicht mehr reibungslos. Dietrich Scheunemanns Buch „Romankrise“ erschien in dem Moment, da ich das Studium der Germanistik begann, und zeigte mir sogleich, dass das Romanschreiben mit Helden, auktorialen Erzählern und so weiter nach Fontane auch keine Selbstverständlichkeit mehr sei und im ganzen 20. Jahrhundert ein einziges Krisenszenario ablaufe. Joyce, Proust, Musil, Döblin, Robbe-Grillet – sie alle schrieben Romane im Bewusstsein, dass man „richtige“ Romane eigentlich gar nicht mehr schreiben könne, und wer dennoch so tat, als ließe sich etwas erzählen, wurde ohne viel Federlesens als reaktionärer Epigone abgetan.
Auf dem Gedichtsektor (Adorno! Auschwitz!) sah die Lage nicht besser aus, und Theaterschaffende bewegten quälend die Frage in ihrem Herzen, wie sich – nach Beckett – Theaterstücke überhaupt noch weiter denken ließen, ohne dass man in „vorkritische“ Zeiten zurückfalle. In meinen anderen Studienfächern nahm sich das nicht anders aus: Die Philosophie mühte sich wacker um die „Letztbegründung“ und befand sich, glaube ich, auch in einer Krise, während die Romanistik nicht aus dem Konsens der philologischen Untergangsbeschwörungen ausscheren konnte. Der Aufsatz „Der Verlust der Sprache. Zur linguistischen Krise in der Literatur“ des Romanisten Bodo Müller war Pflichtlektüre.
Im Privatleben standen die Zeichen gleichfalls auf Sturm. Alice Schwarzers Anstrengungen blieben nicht ohne Wirkung und rüttelten an den Grundmauern des Patriarchats. Das Leben als Mann wurde mühsam; die Duldsamkeit der Frau, jahrhundertelang der Mörtel des männlich dominierten Gemeinwesens, nahm ab, und prompt entstanden „Partnerschaftskrisen“, die das „Rollenverständnis“ in Frage stellten. Der Mann in der Krise – das ist bis heute, zumindest außerhalb der CSU, ein selbstverständliches Dauerthema, und natürlich gelang es auch mir nicht, diese Widrigkeiten gänzlich aus meinem Leben zu verbannen.
Nachdem ich alle Roman-, Lyrik-, Theater- und Sprachkrisen des Studiums überstanden hatte, suchte ich Fuß im Berufsleben zu fassen und wandte mich dem Verlagswesen zu. Dem Buch ging es zwar seit Gutenberg auch schlecht und schlechter, doch irgendwie, so mein Kinderglauben, würde das schon weitergehen mit dem gedruckten Wort; ich las ja sehr gerne. Dann jedoch kamen das Internet, das elektronische Buch, Hera Lind, die Preisbindungsdiskussion, die Konzentration und die Globalisierung des Verlagswesens, die Agenturen, Herta Däubler-Gmelins Entwurf zum neuen Urhebervertragsrecht, die Hardcoverkrise, der Vorschusswahnsinn, Iris Berbens „Älter werde ich später“ und das Fräuleinwunder.
Kurzum, ich hatte mir mein Leben in dieser Branche, ehrlich gesagt, anders vorgestellt, ganz anders sogar. Auch die andauernde Konfrontation mit Schriftstellern, die mir ihre „Schreibblockaden“ und „Schaffenskrisen“ in stundenlangen Telefonaten darlegten, macht mir emotional zu schaffen – mit dem Ergebnis, dass mir selbst einfache Dinge wie der vorliegende Artikel plötzlich schwer fallen.
Wo es im Kleinen nicht stimmt, darf man im Großen nichts erwarten. Seit der Ölkrise hat sich in der Welt nichts zum Besseren gewendet: „Krisenherde“ und „Krisengebiete“ finden sich rund um den Erdball, Heerestruppen, die Volker Rühe einmal „Krisenreaktionskräfte“ nannte, stehen im Dauereinsatz. Oasen des Friedens sind kaum mehr aufzuspüren oder noch nicht mit dem richtigen Problembewusstsein ausgestattet; selbst mit der Schweiz ist heute kein Staat mehr zu machen. Dann kamen, in wechselnder Folge, die Finanzkrise, die Atomkrise, die Parteienkrise, die Sängerin Michelle und das Desaster am Neuen Markt, der einer nachrückenden, offenkundig geschichtsvergessenen Generation merkwürdigerweise als „krisenfeste“ Zone erschien, kurzfristig zumindest.
Auch in die Küche zog Chaos ein: Der Frischeiskandal (Birkel!) machte den Anfang; alsbald waren Fische, Hühner, Kälber und endlich die Rinder an der Reihe. Die deutsche Hausfrau musste sich als Krisenmanagerin behaupten, um den Frieden am Mittagstisch zu sichern. Fragen nach dem Rindfleischanteil in der Putenlyoner gehen ihr seitdem selbstverständlich über die Lippen. Mit Renate Künast wurde auch nicht alles neu. Ihr Versuch, die Ernährungskrise in den Griff zu bekommen, stieß anderen sauer auf und ließ Aufrechte wie den CSU-Abgeordneten Albert Deß über die „Bauern in einer Sinnkrise“ räsonieren.
Als dann das neue Jahrtausend kam, fing ich an, mein Leben neu zu ordnen. „Du musst das mit den Krisen besser hinkriegen“, schrieb ich ganz oben auf die Abarbeitungsliste. Gewiss, auch in früheren Jahren war ich auf Dinge gestoßen, die mir halfen, das „Krisengerede“ in anderem Licht zu sehen – auf die Publikationen des Althistorikers Alexander Demandt zum Beispiel. Dessen Studie „Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt“ hatte mir anschaulich gezeigt, wie es intellektuell veranlagte Menschen schon immer verstanden, ihre Jetztzeit als abschüssiges Gelände zu deuten, das fraglos dem Untergrund des alten Rom ähnele und deshalb unweigerlich dem Verfall geweiht sei.
Das Stereotype dieser geschichtsphilosophischen Spekulationen gefiel mir, da es die Last nahm, von jedem neuen Krisenphänomen bis ins Innerste erschüttert zu werden. Seitdem lese ich am liebsten Autoren, die Fortschritt grundsätzlich für suspekt halten, die Ruhe im Sturm bewahren, die nicht jeden Defekt menschlichen Zusammenlebens für reformierbar halten und die Vertreibung aus dem Paradies für den Anfang allen Unheils. Montaigne ist für mich ein guter Schriftsteller, Schopenhauer auch, Thomas Bernhard sowieso, und in Emile Ciorans „Lehre vom Zerfall“ lese ich immer wieder gerne.
Wie sonst soll man alles auch aushalten? Ein Blick ins publizistische Minenfeld unserer Tage macht die „ganz neue Unübersichtlichkeit“ (Ariane Sommer) der Welt und ihrer Erscheinungen überdeutlich. Kein Thema, das nicht geeignet wäre, von einem krisengeschüttelten Autor aufbereitet zu werden. Die Krise befällt mittlerweile alles: die bürgerliche Kultur, den Flächentarifvertrag, die Beichte, die Seele, die CDU, das Bilanzrecht, die GmbH, Bayern München, die multikulturelle Gesellschaft, die Wirtschaftstheorien, die Pädagogik, den Sinn, das Leben, die Marktwirtschaft, die Gegenwart, die Jugend, die Bundeswehr.
Das Internet mischt natürlich auch mit und offeriert Hilfe, unter www.krisennavigator.de oder www.krisen-coach.de etwa. Ich hingegen klinke mich aus; meine Bekannten wissen das, fragen mich nur manchmal spitz, ob es nicht höchste Zeit für mich sei, meine Midlife-Crisis zu nehmen. Von wegen, lautet meine standhafte Antwort. Im Frühjahr schaffe ich mir übrigens eine Katze an. Wie der Bonner Psychologe Professor Bergler herausfand, entwickeln Katzenbesitzer „beim Durchleben von Krisen im Vergleich zu katzenlosen Mitmenschen einen aktiveren Verarbeitungsmechanismus und eine verstärkte positive Mentalität“. Die Katze werde zum „zentralen Vermittler von Alltagsfreuden“. Na also.
RAINER MORITZ, Jahrgang 1958, leitet den Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, und hat zahlreiche Bücher verfasst. In Kürze erscheint von ihm: „Vorne fallen die Tore. Fußball-Geschichte(n) von Sokrates bis Rudi Völler“, Antje Kunstmann Verlag, München 2002, 240 Seiten, 14,90 Euro
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