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Mit den Verhältnissen arrangiert

Auf einem Kongress in Dresden klagen die Erwerbslosen über den „Terror der Ökonomie“ – und über die Verzagtheit der Leidensgenossen

DRESDEN taz ■ Die Worte des Arbeitsministers passten in das Bild, das sich die Konferenzteilnehmer von der Bundesregierung gemacht hatten. 80 Vertreter von Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen trafen sich am Wochenende in Dresden – und für sie war ohnehin klar: Die rot-grüne Regierung knüpft nahtlos an Kohl an, wenn sie den deutschen Sozialstaat zur Disposition stellen will. Mit allen erdenklichen Erleicherungen für Kapitalbesitzer schiebe der Staat die Verantwortung für Arbeitsplätze von sich weg. „Dahinter steht ein einziges Ziel: eine anständige Kapitalrendite bei amerikanischen Arbeitsbedingungen“, heißt es in einem am Schluss verabschiedeten Aufruf.

Man fühle sich als Objekt eines Experiments, sagte Jens G. Schröder von der Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialhilfeinitiativen. „Sie wollen unsere Grenzbelastung ausprobieren: Mit wie wenig gibt sich der Arbeitslose noch zufrieden?“ Namentlich die Grünen wurden heftig attackiert, weil sie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe forcieren wollen.

Das Kombilohnmodell als „propagandistische Maßnahme“ und mit ihm Bundesarbeitsminister Walter Riester ernteten weitgehend Spott. Es bringe kaum echte Jobs und werde schon an den Unternehmerinteressen scheitern. „Eine Regierung, die sich nicht dem Terror der Ökonomie beugen würde, ist derzeit nicht in Sicht“, heißt es weiter in dem Aufruf. Die PDS als mögliche Alternative wurde während der gesamten Tagung mit keinem Wort erwähnt. Kein Wunder, wenn sie die außerparlamentarische Arbeit fast völlig habe einschlafen lassen, meinte ein einsamer sächsischer PDS-Vertreter.

Kein existenzieller Leidensdruck

Die Konferenzteilnehmer suchten nach Bündnis- und Ansprechpartnern – aber auch die eigene Basis. Allein gelassen fühlt man sich nicht nur von den Regierungsparteien und den Gewerkschaften, sondern auch von den eigentlich Betroffenen. Wenn Arbeitslose erst zu Widerstandsaktionen „motiviert“ werden müssen, wenn die Aktivisten über Mobilisierungsprobleme klagen – dann kann wohl zu Recht von allgemeiner Verzagtheit und Anpassung gesprochen werden.

Die erstmals in Ostdeutschland tagenden „Arbeitslosenfunktionäre“ machen allerdings selbst nicht durchweg den Eindruck existenziellen Leidensdrucks. Auch sie haben sich in jahrelangen „Arbeitslosenkarrieren“ mit den Verhältnissen arrangiert.

Wo sind die potenziellen Verbündeten? Außer bei Verdi oder der IG Metall sei man bei den Gewerkschaften bestenfalls eine „Fußnote“. Die mit drei gut bezahlten Leuten besetzte so genannte Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Erwerbslosengruppen in Bielefeld glänzte durch Abwesenheit und wird offenbar auch nicht ernst genommen. In Ostdeutschland gebe es praktisch keine Armutsbewegung von unten, stellte Ronald Blaschke als Moderator und Sprecher der sächsischen Armutskonferenz fest. Der sächsische Arbeitslosenverband sei ein Ziehkind des CDU-Wirtschaftsministeriums.

Protest am 1. Mai

Unter Federführung des runden Tisches der Initiativen verständigte man sich in Dresden auf einen Stufenplan. Zunächst soll der 1. Mai zu Einzelaktionen genutzt werden. Eine konzentrierte Attacke soll auf dem DGB-Kongress ab 27. Mai in Berlin geritten werden, und zwar am Tag des Kanzlerbesuchs.

Dort geht es vor allem um eine Kampagne gegen die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, aber auch um garantierte Mindestlöhne. Höhepunkt soll eine Woche vor der Wahl ein bundesweiter Aktionstag am 14. September in Köln sein, unterstützt von „Attac“ und der DGB-Jugend. Dann erwartet man mehr Resonanz als auf das einsame „Avanti Popolo!“ eines Mundharmonikaspielers während der Kongresspause in Dresden. MICHAEL BARTSCH

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